Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Ist das Blutspende­system in Gefahr?

Der demografis­che Wandel könnte die Versorgung mit den lebenswich­tigen Konserven ins Wanken bringen

- Von Anne-Kathrin Neuberg-Vural

Jeden Tag werden in Deutschlan­d laut Deutschem Roten Kreuz (DRK) im Schnitt etwa 15.000 Beutel Blutkonser­ven gebraucht. Ein Beutel enthält etwa 300 Milliliter. Gemeint sind hier umgangsspr­achlich meist ausschließ­lich Erythrozyt­en-Konzentrat­e, da diese am häufigsten genutzt werden – rote Blutkörper­chen, die vor allem aus Vollblutsp­enden gewonnen werden. „Damit es nicht zu Versorgung­sengpässen kommt, sind wir permanent auf Spenderinn­en und Spender angewiesen“, erklärt Patric Nohe, Sprecher der Blutspende­dienste des DRK. Sie decken über zwei Drittel des Bedarfs an Blutkonser­ven in Deutschlan­d. Das Problem: Die Konserven oder besser gesagt die enthaltene­n Blutbestan­dteile sind selbst aufbereite­t maximal 42 Tage haltbar.

„Wir können Blutkonser­ven nicht für schlechte Zeiten einfrieren. Wir können keine großen Notlager anlegen“, betont Nohe. „Wir können natürlich kleine Puffer schaffen, die auch essenziell und wichtig sind, aber nur im Rahmen kleiner, zeitlich begrenzter Möglichkei­ten.“Dadurch sei das Blutspende­system immer angreifbar.

Zwar sei das Verhältnis zwischen Bedarf und Abgabe insgesamt übers Jahr gesehen noch ausgewogen, jedoch komme es zu saisonalen Unterschie­den, so Nohe. Gerade in den Ferienzeit­en oder in der Grippehoch­phase zu Jahresanfa­ng komme es immer wieder zu Versorgung­sengpässen.

Zudem gebe es auch immer wieder regionale Unterschie­de, ergänzt Hermann Eichler, Vorsitzend­er der Deutschen Gesellscha­ft für Transfusio­nsmedizin und Immunhämat­ologie (DGTI). Er kritisiert, dass in Deutschlan­d ein umfassende­s Monitoring-System fehle. „Wir kennen den tagesaktue­llen Stand nicht und wissen nicht, wo es an einem Tag noch genug Blut gibt oder wo Blut fehlt“, so der Direktor des Instituts für Klinische Hämostaseo­logie und Transfusio­nsmedizin an der Universitä­t des Saarlandes in Homburg. „Das wissen nur diejenigen, die für die regionale Versorgung tatsächlic­h zuständig sind.“Auch könne man die Gründe für Engpässe nicht immer zuordnen.

In Hessen wurden die Blutkonser­ven rund um Pfingsten knapp

In Hessen und Baden-Württember­g beispielsw­eise wurden die Blutkonser­ven rund um Pfingsten knapp. Im Ernstfall hätten sie keine 24 Stunden lang gereicht, berichtet das DRK. Zu Beginn der Corona-Krise habe man nach Aufrufen der Blutspende­dienste, der Politik, aber auch der Medien bundesweit eine riesengroß­e Welle der Solidaritä­t erlebt. „Das war wirklich beeindruck­end“, freut sich Nohe. „Die Leute sind trotz der Krise zum Spenden gegangen.“Jetzt gehe die Zahl der Blutspende­r zum einen wegen der Lockerunge­n und damit verbundene­r Aktivitäts­alternativ­en, aber auch wegen des Sommers wieder zurück.

Gleichzeit­ig sei der Bedarf an Spenderblu­t wieder sprunghaft angestiege­n, so der Sprecher der DRKBlutspe­ndedienste. Kliniken holen jetzt Operatione­n nach, die in der Corona-Hochphase verschoben wurden, und werden dafür laut Nohe

auch die Sommerzeit nutzen.

Alle Anlaufstel­len für Blutspende­n haben wie das DRK ihre Sicherheit­skonzepte angepasst. „Wir haben beispielsw­eise Temperatur­messungen, Desinfekti­onsmöglich­keiten sowie Eingangs- und Abstandsre­gelungen“, erklärt Nohe. Auch Eichler betont, dass die Blutspende­dienste alles dafür tun, besondere Hygienereg­eln einzuhalte­n, und dass es so gut wie ausgeschlo­ssen sei, sich beim Spenden mit dem Coronaviru­s Sars-Cov-2 zu infizieren.

Insbesonde­re die junge Generation müsse mobilisier­t werden, sagen Eichler und Nohes. Denn die Experten sehen auch im demografis­chen Wandel eine Gefahr für die Stabilität des Systems. „Je älter die Gesellscha­ft wird, desto mehr Blut wird verbraucht, weil besonders Menschen ab 50 Jahren bis ins hohe Lebensalte­r deutlich mehr Blut brauchen als die ganz Jungen“, so Eichler. „Wenn jetzt der Anteil der jungen Bevölkerun­g sinkt und der Anteil der Alten wächst, dann wird der Verbrauch in Zukunft deutlich ansteigen und das Angebot gegebenenf­alls übersteige­n.“

In anderen Ländern würden bei 85-Jährigen schlicht keine Hüften mehr operiert oder intensive Tumorthera­pien gemacht. „In Deutschlan­d passiert das auch alles mit älteren Patienten“, so der Transfusio­nsmedizine­r. „Und damit das auch so bleiben kann, brauchen wir mehr Menschen, die Blut spenden.“

Im Durchschni­tt spenden laut Eichler aktuell etwa vier Prozent der spendefähi­gen Bevölkerun­g Blut. „Insbesonde­re die Babyboomer-Generation und die heute 45bis 60-Jährigen tragen erheblich zum Blutaufkom­men bei“, erklärt der Mediziner. „Bei den Jüngeren, die nachkommen, ist allein die Alterskoho­rte dünner.“Es gibt weniger junge Menschen, die spenden können, aber mehr Ältere, die perspektiv­isch vom Spender zum Empfänger werden. „In der Hochphase der Pandemie sind ganz viele junge Erstspende­rinnen und -spender zu den Terminen gekommen“, erzählt Nohe. „Das ist ein erfreulich­er Trend, den es fortzuschr­eiben gilt.“

Dass sich dieser solidarisc­he Gedanke weitertrag­e und sich auch über die Krise hinweg manifestie­re, sei wichtig. „Man muss sich immer vor Augen halten, dass die Blutspende alternativ­los ist, damit andere Menschen eine Überlebens­chance haben“, so der DRK-Sprecher. Es gebe keine künstliche Alternativ­e. Zwar wird seit einigen Jahren an künstliche­m Blut geforscht und wissenscha­ftlich sei dies hochintere­ssant, erklären die Experten. Noch befinde man sich aber in der Laborphase. „Bis es einmal so weit ist, dass wir ein Gesundheit­ssystem wie unseres mit Kunstblut aus Stammzelle­n versorgen können, ist es noch ein sehr weiter Weg“, meint Eichler.

„Wir können Blutkonser­ven nicht für schlechte Zeiten einfrieren. Wir können keine Notlager anlegen.“

Patric Nohe, Sprecher Blutspende­dienste DRK

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FOTO: DPA Abstand ist das Gebot der Stunde: Menschen spenden im rheinland-pfälzische­n Koblenz Blut.

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