Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Ist das Blutspendesystem in Gefahr?
Der demografische Wandel könnte die Versorgung mit den lebenswichtigen Konserven ins Wanken bringen
Jeden Tag werden in Deutschland laut Deutschem Roten Kreuz (DRK) im Schnitt etwa 15.000 Beutel Blutkonserven gebraucht. Ein Beutel enthält etwa 300 Milliliter. Gemeint sind hier umgangssprachlich meist ausschließlich Erythrozyten-Konzentrate, da diese am häufigsten genutzt werden – rote Blutkörperchen, die vor allem aus Vollblutspenden gewonnen werden. „Damit es nicht zu Versorgungsengpässen kommt, sind wir permanent auf Spenderinnen und Spender angewiesen“, erklärt Patric Nohe, Sprecher der Blutspendedienste des DRK. Sie decken über zwei Drittel des Bedarfs an Blutkonserven in Deutschland. Das Problem: Die Konserven oder besser gesagt die enthaltenen Blutbestandteile sind selbst aufbereitet maximal 42 Tage haltbar.
„Wir können Blutkonserven nicht für schlechte Zeiten einfrieren. Wir können keine großen Notlager anlegen“, betont Nohe. „Wir können natürlich kleine Puffer schaffen, die auch essenziell und wichtig sind, aber nur im Rahmen kleiner, zeitlich begrenzter Möglichkeiten.“Dadurch sei das Blutspendesystem immer angreifbar.
Zwar sei das Verhältnis zwischen Bedarf und Abgabe insgesamt übers Jahr gesehen noch ausgewogen, jedoch komme es zu saisonalen Unterschieden, so Nohe. Gerade in den Ferienzeiten oder in der Grippehochphase zu Jahresanfang komme es immer wieder zu Versorgungsengpässen.
Zudem gebe es auch immer wieder regionale Unterschiede, ergänzt Hermann Eichler, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie (DGTI). Er kritisiert, dass in Deutschland ein umfassendes Monitoring-System fehle. „Wir kennen den tagesaktuellen Stand nicht und wissen nicht, wo es an einem Tag noch genug Blut gibt oder wo Blut fehlt“, so der Direktor des Instituts für Klinische Hämostaseologie und Transfusionsmedizin an der Universität des Saarlandes in Homburg. „Das wissen nur diejenigen, die für die regionale Versorgung tatsächlich zuständig sind.“Auch könne man die Gründe für Engpässe nicht immer zuordnen.
In Hessen wurden die Blutkonserven rund um Pfingsten knapp
In Hessen und Baden-Württemberg beispielsweise wurden die Blutkonserven rund um Pfingsten knapp. Im Ernstfall hätten sie keine 24 Stunden lang gereicht, berichtet das DRK. Zu Beginn der Corona-Krise habe man nach Aufrufen der Blutspendedienste, der Politik, aber auch der Medien bundesweit eine riesengroße Welle der Solidarität erlebt. „Das war wirklich beeindruckend“, freut sich Nohe. „Die Leute sind trotz der Krise zum Spenden gegangen.“Jetzt gehe die Zahl der Blutspender zum einen wegen der Lockerungen und damit verbundener Aktivitätsalternativen, aber auch wegen des Sommers wieder zurück.
Gleichzeitig sei der Bedarf an Spenderblut wieder sprunghaft angestiegen, so der Sprecher der DRKBlutspendedienste. Kliniken holen jetzt Operationen nach, die in der Corona-Hochphase verschoben wurden, und werden dafür laut Nohe
auch die Sommerzeit nutzen.
Alle Anlaufstellen für Blutspenden haben wie das DRK ihre Sicherheitskonzepte angepasst. „Wir haben beispielsweise Temperaturmessungen, Desinfektionsmöglichkeiten sowie Eingangs- und Abstandsregelungen“, erklärt Nohe. Auch Eichler betont, dass die Blutspendedienste alles dafür tun, besondere Hygieneregeln einzuhalten, und dass es so gut wie ausgeschlossen sei, sich beim Spenden mit dem Coronavirus Sars-Cov-2 zu infizieren.
Insbesondere die junge Generation müsse mobilisiert werden, sagen Eichler und Nohes. Denn die Experten sehen auch im demografischen Wandel eine Gefahr für die Stabilität des Systems. „Je älter die Gesellschaft wird, desto mehr Blut wird verbraucht, weil besonders Menschen ab 50 Jahren bis ins hohe Lebensalter deutlich mehr Blut brauchen als die ganz Jungen“, so Eichler. „Wenn jetzt der Anteil der jungen Bevölkerung sinkt und der Anteil der Alten wächst, dann wird der Verbrauch in Zukunft deutlich ansteigen und das Angebot gegebenenfalls übersteigen.“
In anderen Ländern würden bei 85-Jährigen schlicht keine Hüften mehr operiert oder intensive Tumortherapien gemacht. „In Deutschland passiert das auch alles mit älteren Patienten“, so der Transfusionsmediziner. „Und damit das auch so bleiben kann, brauchen wir mehr Menschen, die Blut spenden.“
Im Durchschnitt spenden laut Eichler aktuell etwa vier Prozent der spendefähigen Bevölkerung Blut. „Insbesondere die Babyboomer-Generation und die heute 45bis 60-Jährigen tragen erheblich zum Blutaufkommen bei“, erklärt der Mediziner. „Bei den Jüngeren, die nachkommen, ist allein die Alterskohorte dünner.“Es gibt weniger junge Menschen, die spenden können, aber mehr Ältere, die perspektivisch vom Spender zum Empfänger werden. „In der Hochphase der Pandemie sind ganz viele junge Erstspenderinnen und -spender zu den Terminen gekommen“, erzählt Nohe. „Das ist ein erfreulicher Trend, den es fortzuschreiben gilt.“
Dass sich dieser solidarische Gedanke weitertrage und sich auch über die Krise hinweg manifestiere, sei wichtig. „Man muss sich immer vor Augen halten, dass die Blutspende alternativlos ist, damit andere Menschen eine Überlebenschance haben“, so der DRK-Sprecher. Es gebe keine künstliche Alternative. Zwar wird seit einigen Jahren an künstlichem Blut geforscht und wissenschaftlich sei dies hochinteressant, erklären die Experten. Noch befinde man sich aber in der Laborphase. „Bis es einmal so weit ist, dass wir ein Gesundheitssystem wie unseres mit Kunstblut aus Stammzellen versorgen können, ist es noch ein sehr weiter Weg“, meint Eichler.
„Wir können Blutkonserven nicht für schlechte Zeiten einfrieren. Wir können keine Notlager anlegen.“
Patric Nohe, Sprecher Blutspendedienste DRK