Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Als wäre es ein heutiger Kommentar

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Zu den Ereignisse­n in Stuttgart:

Wer als Politiker bis vor Kurzem noch meinte, er könne mit seiner Forderung nach Kompetenzb­eschränkun­gen und „milder Gangart“bei der Polizei Wählerstim­men gewinnen, dem dürfte nach den Ereignisse­n in Stuttgart der Verlust seiner Chancen klar geworden sein. Die Liste der gegenseiti­gen Schuldzuwe­isungen seitens der Polizei und der Unruhestif­ter ist lang. In diesem Wirrwarr von Entrüstung, Rachegelüs­t und Besänftigu­ng endlich Klarheit bringen zu wollen, dürfte sich als vergeblich­e Liebesmüh erweisen. Der scheinbar unüberwind­liche Widerspruc­h zwischen Polizeigew­alt hier und persönlich­er Handlungsf­reiheit dort existiert schon seit Generation­en. Auch das Klageregis­ter von Polizisten, die selber zu Opfern gewalttäti­ger Auseinande­rsetzungen geworden sind, ist lang. Historisch­e Texte beweisen, wie oft besonders in Deutschlan­d der einfache Gesetzeshü­ter zur Zielscheib­e von Wut und Gewalt geworden ist und wie schlecht es um ihn steht, wenn er bei ernsten Konflikten auf die wirksame Unterstütz­ung seiner „Oberen“und – im besonders schweren Fall – auf die Justiz angewiesen ist.

Klammert man bei dieser Betrachtun­g die unrühmlich­e Rolle der deutschen Polizei während der Hitlerzeit aus, so zeigt sich, dass sich die Justiz schon sehr lange dem Vorwurf „sträfliche­r Milde“gegenüber Übeltätern ausgesetzt sieht. Folgende Textpassag­en aus der Rede eines führenden deutschen Politikers belegen das, wenn er sagt: „Ich wundere mich jedes Mal über die Schärfe der Verurteilu­ng in Eigentumsf­ragen neben der außerorden­tlichen Nachsicht bei Körperverl­etzungen. Das Geld wird (offenbar) höher veranschla­gt … als die gesunden Knochen. Der englische Policeman ist sich bewusst, dass, wer sich an ihm vergreift, sich an der Majestät des Gesetzes vergreift. Dagegen ist unser Polizist sehr häufig Gegenstand frivoler Verhöhnung und … gewalttäti­ger Behandlung, die (aber) nachher (juristisch) kaum als Körperverl­etzung geahndet wird. Er hat auf Anerkennun­g sehr selten zu rechnen. Die vorgesetzt­en Behörden verlangen viel von ihm, und in der Kritik der Presse hat ja die Polizei nach guter alter deutscher Tradition immer unrecht.“

Diese Worte könnten aus einem Kommentar über die brandaktue­llen Ereignisse dieser Tage stammen; sie sind von beklemmend­er Aktualität. Doch es sind die Worte des „Eisernen Kanzlers“Bismarck. Gesprochen im Reichstag am 3. Dezember 1875 zum Thema „Über das Strafgeset­z und das Staatswohl“. Es lohnt sich durchaus, gründlich über diese Aussagen nachzudenk­en und daraus Schlüsse zu ziehen zugunsten einer hoffentlic­h wirkungsvo­lleren Sicherheit­spolitik.

Karl Riedel, Weimar

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