Thüringische Landeszeitung (Weimar)
„Das Medikament muss dauerhaft genommen werden, um einen Jo-Jo-Effekt zu vermeiden.“
Fast 15 Prozent Gewichtsverlust in 15 Monaten – das klingt für viele Übergewichtige zu schön, um wahr zu sein. Um mit einer Ernährungsumstellung und Sport zu solchen Ergebnissen zu kommen, braucht es jede Menge Fleiß, Disziplin, Willensstärke und Durchhaltevermögen. „Für Menschen mit krankhafter Adipositas ist das allein wegen der Biologie ihres Körpers kaum leistbar“, erklärt Andreas Pfeiffer, Endokrinologe und Ernährungsmediziner an der Berliner Charité. Das hätten zahlreiche Studien gezeigt. Der Körper fordere das Gewicht regelrecht zurück.
Ein Medikament, das aktuell bereits bei Typ-2-Diabetes eingesetzt wird, könnte Betroffenen künftig helfen: Semaglutid. „Wenn wir Patientinnen und Patienten mit Typ-2Diabetes zusätzlich zu einer Diät und körperlicher Bewegung Semaglutid verschreiben, sehen wir, dass diese merklich abnehmen“, erzählt Jens Aberle, ärztlicher Leiter der Sektion Endokrinologie, Stoffwechsel, Diabetologie am Hamburger Universitätsklinikum (UKE). Das sei für viele Diabetiker ein großer Vorteil. Pfeiffer ergänzt: „Auch bei verwandten Wirkstoffen wie beispielsweise Dulaglutid sehen wir bei hoher Dosierung einen Gewichtsverlust der Patienten.“
Semaglutid wurde in einer aktuellen Studie an übergewichtigen Nicht-Diabetikerinnen und NichtDiabetikern getestet. Diese verloren im Zeitraum von 68 Wochen, also in gut 15 Monaten, im Schnitt 15,3 Kilogramm – im Median waren es knapp 15 Prozent des eigenen Körpergewichts. Die Ergebnisse der internationalen Step-1-Studie sind im „New England Journal of Medicine“veröffentlicht.
„Diese Ergebnisse sind wirklich sehr beeindruckend,“sagt Endokrinologe Pfeiffer. So starke AbnehmErfolge seien bislang meist nur durch chirurgische Eingriffe möglich gewesen, wo beispielsweise der mittlere Dünndarm an den Magen angenäht werde. Auch Aberle sieht in dem Medikament viel Potenzial für die Adipositas-Therapie – auch wenn es meist dauerhaft eingenommen werden müsse, um einen Jo-JoEffekt zu vermeiden. Eine Zulassungserweiterung hat der Hersteller bereits beantragt.
Alle der knapp 2000 Studienteilnehmer galten mit einem BodyMass-Index (BMI) von mindestens 30 als adipös. Sie hatten bis auf wenige Ausnahmen keine Begleiterkrankungen. Für die Studie spritzten sie über den Versuchszeitraum entweder einmal wöchentlich 2,4 Milligramm (mg) Semaglutid unter die Haut oder ein Placebo – ergänzend zu intensiver Verhaltenstherapie. In Diabetes-Therapien wird derzeit maximal 1 mg gespritzt. Weder die Studienteilnehmer noch die Wissenschaftler wussten, welcher Übergewichtige zu welcher Versuchsgruppe gehörte.
Der Wirkstoff Semaglutid ahmt die Wirkung des Darm- und Sättigungshormons GLP-1 nach, hat aber eine längere Halbwertszeit. Im Körper regt er die Bauchspeicheldrüse an, Insulin zu produzieren und auszuschütten. Zusätzlich hemmt er die Freisetzung des Insulin-Gegenspielers Glukagon. Außerdem erhöht der Wirkstoff die Magenentleerung und erhöht dadurch das Sättigungsgefühl. Der Darm fahre einen Gang zurück, erklärt Pfeiffer.
Dieser Wirkmechanismus sei auch verantwortlich für die Hauptnebenwirkungen, so der CharitéMediziner. „Das Essen bleibt zunächst im Magen liegen und wird
■ Um den Body-Mass-Index (BMI) zu errechnen, wird das Körpergewicht in Kilogramm durch das Quadrat der Körpergröße in Metern geteilt. Zusätzlich spielt das Alter eine Rolle, da sich das Normalgewicht verschiebt, je älter man wird. Mit Blick auf das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist laut Studien aber der sogenannte nicht weitertransportiert.“Im harmlosen Fall bedeute das ein Völlegefühl. In der unfreundlichen Variante komme es zu Erbrechen, Durchfall oder auch Verstopfung. Dafür entwickele der Körper aber im Laufe der Zeit eine Toleranz, meint Pfeiffer. Die Dosis zum Start werde daher schrittweise erhöht. Auch in der aktuellen Studie zeigten sich genau diese Nebenwirkungen, die Aberle und Pfeiffer als vergleichsweise harmlos einstufen. Sie verliefen mild bis moderat und nahmen im Studienverlauf ab.
Konservative Therapien helfen meist nicht langfristig
Das Positive: Die Studie zeigte, dass sich durch die wöchentliche Semaglutid-Gabe auch andere Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Taillenumfang, Blutfettwerte, Blutdruck und Glukosewert verbesserten. Auch die Lebensqualität der Probanden stieg nach eigenen Angaben deutlich. Pfeiffer und Aberle dämpfen aber die Hoffnung: Waist-to-Height-Ratio (WHtR) entscheidend – die Zahl die sich ergibt, wenn man den Taillenumfang durch die Körpergröße teilt. Die soll Rückschlüsse auf die Verteilung des Körperfetts zulassen. Zusätzlich gibt es noch den Waist-to-Hip-Ratio (WHR), der das Verhältnis von Hüft- zu Taillenumfang beschreibt.
Wegen der hohen Kosten sei die Zielgruppe nach erfolgreicher Zulassung tatsächlich zunächst klein. Eine Kostenübernahme durch die Kranken- oder Rentenkassen sei nicht zu erwarten, da Medikamente zur Gewichtsabnahme sozusagen als Lifestyle-Medikamente klassifiziert würden.
Die „kleine Schwester“des Semaglutid ist bereits zum Abnehmen auf dem Markt: Liraglutid. Es muss täglich gespritzt werden. Damit schaffen Patienten laut Aberle bis zu zehn Prozent Gewichtsreduktion. Die Behandlungskosten von drei bis acht Euro am Tag könnten sich viele aber schlicht nicht leisten, meint der UKE-Arzt. Pfeiffer rechnet bei Semaglutid sogar mit Kosten von bis zu 300 Euro im Monat.
Der durchschnittliche BMI Erwachsener in Deutschland liegt laut den Stoffwechselexperten aktuell bei rund 29 – sei also erschreckend hoch. Die zu erwartenden Kosten durch Folgeerkrankungen seien immens. Statistisch ist jeder Fünfte stark übergewichtig. Die Behandlungsleitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“sieht für Betroffene ein zwölfmonatiges Basisprogramm aus Ernährungs-, Bewegungsund Verhaltenstherapie vor. Ziel ist je nach BMI eine Gewichtsabnahme von fünf bis zehn Prozent. Mit konservativen Therapien würden das laut Pfeiffer und Aberle viele Patientinnen und Patienten aber nicht schaffen. Langfristig komme man an Medikamenten wie Semaglutid nicht guten Gewissens vorbei.