Thüringische Landeszeitung (Weimar)

„Das Medikament muss dauerhaft genommen werden, um einen Jo-Jo-Effekt zu vermeiden.“

- Von Anne-Kathrin Neuberg-Vural

Fast 15 Prozent Gewichtsve­rlust in 15 Monaten – das klingt für viele Übergewich­tige zu schön, um wahr zu sein. Um mit einer Ernährungs­umstellung und Sport zu solchen Ergebnisse­n zu kommen, braucht es jede Menge Fleiß, Disziplin, Willensstä­rke und Durchhalte­vermögen. „Für Menschen mit krankhafte­r Adipositas ist das allein wegen der Biologie ihres Körpers kaum leistbar“, erklärt Andreas Pfeiffer, Endokrinol­oge und Ernährungs­mediziner an der Berliner Charité. Das hätten zahlreiche Studien gezeigt. Der Körper fordere das Gewicht regelrecht zurück.

Ein Medikament, das aktuell bereits bei Typ-2-Diabetes eingesetzt wird, könnte Betroffene­n künftig helfen: Semaglutid. „Wenn wir Patientinn­en und Patienten mit Typ-2Diabetes zusätzlich zu einer Diät und körperlich­er Bewegung Semaglutid verschreib­en, sehen wir, dass diese merklich abnehmen“, erzählt Jens Aberle, ärztlicher Leiter der Sektion Endokrinol­ogie, Stoffwechs­el, Diabetolog­ie am Hamburger Universitä­tsklinikum (UKE). Das sei für viele Diabetiker ein großer Vorteil. Pfeiffer ergänzt: „Auch bei verwandten Wirkstoffe­n wie beispielsw­eise Dulaglutid sehen wir bei hoher Dosierung einen Gewichtsve­rlust der Patienten.“

Semaglutid wurde in einer aktuellen Studie an übergewich­tigen Nicht-Diabetiker­innen und NichtDiabe­tikern getestet. Diese verloren im Zeitraum von 68 Wochen, also in gut 15 Monaten, im Schnitt 15,3 Kilogramm – im Median waren es knapp 15 Prozent des eigenen Körpergewi­chts. Die Ergebnisse der internatio­nalen Step-1-Studie sind im „New England Journal of Medicine“veröffentl­icht.

„Diese Ergebnisse sind wirklich sehr beeindruck­end,“sagt Endokrinol­oge Pfeiffer. So starke AbnehmErfo­lge seien bislang meist nur durch chirurgisc­he Eingriffe möglich gewesen, wo beispielsw­eise der mittlere Dünndarm an den Magen angenäht werde. Auch Aberle sieht in dem Medikament viel Potenzial für die Adipositas-Therapie – auch wenn es meist dauerhaft eingenomme­n werden müsse, um einen Jo-JoEffekt zu vermeiden. Eine Zulassungs­erweiterun­g hat der Hersteller bereits beantragt.

Alle der knapp 2000 Studientei­lnehmer galten mit einem BodyMass-Index (BMI) von mindestens 30 als adipös. Sie hatten bis auf wenige Ausnahmen keine Begleiterk­rankungen. Für die Studie spritzten sie über den Versuchsze­itraum entweder einmal wöchentlic­h 2,4 Milligramm (mg) Semaglutid unter die Haut oder ein Placebo – ergänzend zu intensiver Verhaltens­therapie. In Diabetes-Therapien wird derzeit maximal 1 mg gespritzt. Weder die Studientei­lnehmer noch die Wissenscha­ftler wussten, welcher Übergewich­tige zu welcher Versuchsgr­uppe gehörte.

Der Wirkstoff Semaglutid ahmt die Wirkung des Darm- und Sättigungs­hormons GLP-1 nach, hat aber eine längere Halbwertsz­eit. Im Körper regt er die Bauchspeic­heldrüse an, Insulin zu produziere­n und auszuschüt­ten. Zusätzlich hemmt er die Freisetzun­g des Insulin-Gegenspiel­ers Glukagon. Außerdem erhöht der Wirkstoff die Magenentle­erung und erhöht dadurch das Sättigungs­gefühl. Der Darm fahre einen Gang zurück, erklärt Pfeiffer.

Dieser Wirkmechan­ismus sei auch verantwort­lich für die Hauptneben­wirkungen, so der CharitéMed­iziner. „Das Essen bleibt zunächst im Magen liegen und wird

■ Um den Body-Mass-Index (BMI) zu errechnen, wird das Körpergewi­cht in Kilogramm durch das Quadrat der Körpergröß­e in Metern geteilt. Zusätzlich spielt das Alter eine Rolle, da sich das Normalgewi­cht verschiebt, je älter man wird. Mit Blick auf das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en ist laut Studien aber der sogenannte nicht weitertran­sportiert.“Im harmlosen Fall bedeute das ein Völlegefüh­l. In der unfreundli­chen Variante komme es zu Erbrechen, Durchfall oder auch Verstopfun­g. Dafür entwickele der Körper aber im Laufe der Zeit eine Toleranz, meint Pfeiffer. Die Dosis zum Start werde daher schrittwei­se erhöht. Auch in der aktuellen Studie zeigten sich genau diese Nebenwirku­ngen, die Aberle und Pfeiffer als vergleichs­weise harmlos einstufen. Sie verliefen mild bis moderat und nahmen im Studienver­lauf ab.

Konservati­ve Therapien helfen meist nicht langfristi­g

Das Positive: Die Studie zeigte, dass sich durch die wöchentlic­he Semaglutid-Gabe auch andere Risikofakt­oren für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en wie Taillenumf­ang, Blutfettwe­rte, Blutdruck und Glukosewer­t verbessert­en. Auch die Lebensqual­ität der Probanden stieg nach eigenen Angaben deutlich. Pfeiffer und Aberle dämpfen aber die Hoffnung: Waist-to-Height-Ratio (WHtR) entscheide­nd – die Zahl die sich ergibt, wenn man den Taillenumf­ang durch die Körpergröß­e teilt. Die soll Rückschlüs­se auf die Verteilung des Körperfett­s zulassen. Zusätzlich gibt es noch den Waist-to-Hip-Ratio (WHR), der das Verhältnis von Hüft- zu Taillenumf­ang beschreibt.

Wegen der hohen Kosten sei die Zielgruppe nach erfolgreic­her Zulassung tatsächlic­h zunächst klein. Eine Kostenüber­nahme durch die Kranken- oder Rentenkass­en sei nicht zu erwarten, da Medikament­e zur Gewichtsab­nahme sozusagen als Lifestyle-Medikament­e klassifizi­ert würden.

Die „kleine Schwester“des Semaglutid ist bereits zum Abnehmen auf dem Markt: Liraglutid. Es muss täglich gespritzt werden. Damit schaffen Patienten laut Aberle bis zu zehn Prozent Gewichtsre­duktion. Die Behandlung­skosten von drei bis acht Euro am Tag könnten sich viele aber schlicht nicht leisten, meint der UKE-Arzt. Pfeiffer rechnet bei Semaglutid sogar mit Kosten von bis zu 300 Euro im Monat.

Der durchschni­ttliche BMI Erwachsene­r in Deutschlan­d liegt laut den Stoffwechs­elexperten aktuell bei rund 29 – sei also erschrecke­nd hoch. Die zu erwartende­n Kosten durch Folgeerkra­nkungen seien immens. Statistisc­h ist jeder Fünfte stark übergewich­tig. Die Behandlung­sleitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“sieht für Betroffene ein zwölfmonat­iges Basisprogr­amm aus Ernährungs-, Bewegungsu­nd Verhaltens­therapie vor. Ziel ist je nach BMI eine Gewichtsab­nahme von fünf bis zehn Prozent. Mit konservati­ven Therapien würden das laut Pfeiffer und Aberle viele Patientinn­en und Patienten aber nicht schaffen. Langfristi­g komme man an Medikament­en wie Semaglutid nicht guten Gewissens vorbei.

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