Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Ohne Ende erschöpft
Neuroimmunologische Erkrankung gewinnt auch als Langzeitfolge von Covid-19 Bedeutung
Es begann mit einem dick geschwollenen Knöchel. Und es wuchs sich zu einem Leiden aus, das ihre Lebensqualität schwer beeinträchtigt und sie sogar zum Ausstieg aus dem Berufsleben zwang: Claudia Reich leidet an einer unterschätzten und trotz des gar nicht so seltenen Auftretens noch immer weithin unbekannten chronischen Krankheit – an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronic Fatique Syndrom, kurz ME/CFS.
Dabei handelt es sich um eine neuroimmunologische Erkrankung, die vor allem mit extremer körperlicher Schwäche einhergeht. Schon nach kleinen Aktivitäten wie Duschen und Zähneputzen fühlen sich Betroffene restlos erschöpft; sie haben Muskel- und Gelenkschmerzen und das Gefühl, am Ende ihrer Kräfte zu sein. Ein Viertel der Erkrankten kann das Haus gar nicht mehr verlassen.
Ein solch schwerer Fall ist Claudia Reich zum Glück nicht. Doch die gebürtige Arnstädterin, die einst der Liebe wegen nach Essen zog, muss sich sehr genau überlegen, was sie sich wann zumutet: An guten Tagen schafft sie es, eine kleine Runde mit dem Hund zu drehen. An weniger guten bewältigt sie mit Ach und Krach die Treppe in ihrer Maisonnettewohnung. Hat sie Termine, muss sie sie so planen, dass dazwischen Zeit für ausgiebige Ruhepausen bleibt. Versucht sie hingegen, über die Grenzen hinwegzugehen, die ihr ihre gesundheitliche Verfassung setzt, lässt sie das ihr Körper mit noch ausdauernderer Erschöpfung büßen.
Viele Betroffene werden als Simulanten abgestempelt
„Ich vergleiche diesen Zustand gern mit einem Akku: Bei gesunden Menschen ist er morgens zu 100 Prozent geladen, nimmt im Tagesverlauf allmählich ab und lädt sich über Nacht wieder auf“, sagt die Mittvierzigerin. „Mein Akku aber ist kaputt: Im besten Falle ist er zu 30 Prozent geladen, aber schon nach der kleinsten Anstrengung wieder im roten Bereich. Dann muss ich mich hinlegen und sehr, sehr lange ausruhen.“
Der geschwollene Knöchel, mit dem sie sich vor dreieinhalb Jahren zunächst bei ihrem Hausarzt vorstellte, brachte ihr zwar die Einweisung in die Klinik ein, wo schließlich auch eine Lungenerkrankung diagnostiziert wurde. Doch als Ursache der Beschwerden im Fuß und des Gefühls der totalen Erschöpfung
schied diese aus. „Mein Hausarzt ließ mich deshalb komplett durchchecken: Ich war im MRT und im Schlaflabor, beim Neurologen, Kardiologen, Psychologen“, sagt Claudia Reich. „Im Ausschlussverfahren kam mein Arzt nach etwa einem Jahr schließlich zur Diagnose ME/CFS.“Das Gefühl, selbst im Urlaub oder bei einer längeren Auszeit nicht mehr zu Kräften zu kommen, hatte zumindest
endlich einen Namen. Claudia Reich ist dankbar dafür, dass der Mediziner so hartnäckig Ursachenforschung betrieb, dass er sie ernst nahm und nicht – wie das Betroffene immer wieder erleben müssen – als Simulantin abtat oder in die Psycho-Ecke verbannte: „Denn fälschlicherweise wird ME/CFS oft als psychische oder psychosomatische Erkrankung eingestuft und entsprechend therapiert. Das aber ist völlig kontraproduktiv.“Denn während etwa Patienten mit einer Depression zu Bewegung an frischer Luft oder im Fitnessstudio geraten werde, sei das für ME/CFS-Kranke pures Gift: Jede Bewegung verbrauche derart viel Energie, dass die notwendigen Ruhe- und Erholungsphasen nur umso länger würden und sich die Symptome verstärkten. Strikte Schonung, Ruhe, behutsamer Umgang mit den eigenen Ressourcen – darauf komme es bei ME/CFS an.
Leben musste in vielen Bereichen neu sortiert werden
Claudia Reich hat schweren Herzens zu akzeptieren gelernt, dass ihre Kräfte so stark limitiert sind, und auch, dass sie mitunter unter Wortfindungs- und Konzentrationsstörungen leidet. Es fiel ihr schwer, nicht mehr arbeiten zu können und in ihrem Alter eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu beantragen. Denn ihren Job als Hochschulsekretärin hat sie sehr gern gemacht. Aber ihre Gesundheit lässt Anderes nicht zu. Die meisten Arbeiten zuhause hat die gebürtige Thüringerin an ihren Mann, ihre beiden Kinder im Teenager-Alter und ihre Mutter, die im selben Haus lebt, abgeben müssen.
Nicht nur ihr Aktionsradius ist in immer kleiner geworden, auch ihr Freundeskreis: „Viele können die Krankheit nicht nachvollziehen“, sagt Claudia Reich. Geblieben seien zwei, drei Freunde, die sie auch jetzt noch schätzten, da sie allenfalls eine kleine Runde spazieren gehen könne und sonst viel zu Hause bleiben müsse. Durch die Krankheit hat sich ihr Leben in vielen Bereichen neu sortiert. Neu sortieren müssen.
Doch auch wenn sie sich notgedrungen mit Schmerzen und einer nie gekannten Müdigkeit arrangieren muss, eines will Claudia Reich nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass ME-CFS auch als Langzeitfolge einer Covid-19-Erkrankung an Bedeutung gewinnt, nicht hinnehmen: die mangelnde Versorgungslage. „Wir Betroffenen wollen nicht länger übersehen werden“, sagt sie. Deshalb richten so wie sie jedes Jahr Erkrankte am 12. Mai den Appell an die Öffentlichkeit, diese Multisystemerkrankung endlich besser zu erforschen und Therapien zu entwickeln, die es verhindern, dass Erkrankte zum Pflegefall werden. Oder – wie es leider noch zu oft geschieht – sogar aus Verzweiflung ihrem Leben selbst ein Ende setzen.