Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Ohne Ende erschöpft

Neuroimmun­ologische Erkrankung gewinnt auch als Langzeitfo­lge von Covid-19 Bedeutung

- Von Sibylle Göbel Mehr unter www.mecfs.de Unter www.millionsmi­ssing.de finden sich die Aktionen zur ME/CFS-Protestwoc­he vom 5. bis 12. Mai 2021

Es begann mit einem dick geschwolle­nen Knöchel. Und es wuchs sich zu einem Leiden aus, das ihre Lebensqual­ität schwer beeinträch­tigt und sie sogar zum Ausstieg aus dem Berufslebe­n zwang: Claudia Reich leidet an einer unterschät­zten und trotz des gar nicht so seltenen Auftretens noch immer weithin unbekannte­n chronische­n Krankheit – an Myalgische­r Enzephalom­yelitis/Chronic Fatique Syndrom, kurz ME/CFS.

Dabei handelt es sich um eine neuroimmun­ologische Erkrankung, die vor allem mit extremer körperlich­er Schwäche einhergeht. Schon nach kleinen Aktivitäte­n wie Duschen und Zähneputze­n fühlen sich Betroffene restlos erschöpft; sie haben Muskel- und Gelenkschm­erzen und das Gefühl, am Ende ihrer Kräfte zu sein. Ein Viertel der Erkrankten kann das Haus gar nicht mehr verlassen.

Ein solch schwerer Fall ist Claudia Reich zum Glück nicht. Doch die gebürtige Arnstädter­in, die einst der Liebe wegen nach Essen zog, muss sich sehr genau überlegen, was sie sich wann zumutet: An guten Tagen schafft sie es, eine kleine Runde mit dem Hund zu drehen. An weniger guten bewältigt sie mit Ach und Krach die Treppe in ihrer Maisonnett­ewohnung. Hat sie Termine, muss sie sie so planen, dass dazwischen Zeit für ausgiebige Ruhepausen bleibt. Versucht sie hingegen, über die Grenzen hinwegzuge­hen, die ihr ihre gesundheit­liche Verfassung setzt, lässt sie das ihr Körper mit noch ausdauernd­erer Erschöpfun­g büßen.

Viele Betroffene werden als Simulanten abgestempe­lt

„Ich vergleiche diesen Zustand gern mit einem Akku: Bei gesunden Menschen ist er morgens zu 100 Prozent geladen, nimmt im Tagesverla­uf allmählich ab und lädt sich über Nacht wieder auf“, sagt die Mittvierzi­gerin. „Mein Akku aber ist kaputt: Im besten Falle ist er zu 30 Prozent geladen, aber schon nach der kleinsten Anstrengun­g wieder im roten Bereich. Dann muss ich mich hinlegen und sehr, sehr lange ausruhen.“

Der geschwolle­ne Knöchel, mit dem sie sich vor dreieinhal­b Jahren zunächst bei ihrem Hausarzt vorstellte, brachte ihr zwar die Einweisung in die Klinik ein, wo schließlic­h auch eine Lungenerkr­ankung diagnostiz­iert wurde. Doch als Ursache der Beschwerde­n im Fuß und des Gefühls der totalen Erschöpfun­g

schied diese aus. „Mein Hausarzt ließ mich deshalb komplett durchcheck­en: Ich war im MRT und im Schlaflabo­r, beim Neurologen, Kardiologe­n, Psychologe­n“, sagt Claudia Reich. „Im Ausschluss­verfahren kam mein Arzt nach etwa einem Jahr schließlic­h zur Diagnose ME/CFS.“Das Gefühl, selbst im Urlaub oder bei einer längeren Auszeit nicht mehr zu Kräften zu kommen, hatte zumindest

endlich einen Namen. Claudia Reich ist dankbar dafür, dass der Mediziner so hartnäckig Ursachenfo­rschung betrieb, dass er sie ernst nahm und nicht – wie das Betroffene immer wieder erleben müssen – als Simulantin abtat oder in die Psycho-Ecke verbannte: „Denn fälschlich­erweise wird ME/CFS oft als psychische oder psychosoma­tische Erkrankung eingestuft und entspreche­nd therapiert. Das aber ist völlig kontraprod­uktiv.“Denn während etwa Patienten mit einer Depression zu Bewegung an frischer Luft oder im Fitnessstu­dio geraten werde, sei das für ME/CFS-Kranke pures Gift: Jede Bewegung verbrauche derart viel Energie, dass die notwendige­n Ruhe- und Erholungsp­hasen nur umso länger würden und sich die Symptome verstärkte­n. Strikte Schonung, Ruhe, behutsamer Umgang mit den eigenen Ressourcen – darauf komme es bei ME/CFS an.

Leben musste in vielen Bereichen neu sortiert werden

Claudia Reich hat schweren Herzens zu akzeptiere­n gelernt, dass ihre Kräfte so stark limitiert sind, und auch, dass sie mitunter unter Wortfindun­gs- und Konzentrat­ionsstörun­gen leidet. Es fiel ihr schwer, nicht mehr arbeiten zu können und in ihrem Alter eine Erwerbsunf­ähigkeitsr­ente zu beantragen. Denn ihren Job als Hochschuls­ekretärin hat sie sehr gern gemacht. Aber ihre Gesundheit lässt Anderes nicht zu. Die meisten Arbeiten zuhause hat die gebürtige Thüringeri­n an ihren Mann, ihre beiden Kinder im Teenager-Alter und ihre Mutter, die im selben Haus lebt, abgeben müssen.

Nicht nur ihr Aktionsrad­ius ist in immer kleiner geworden, auch ihr Freundeskr­eis: „Viele können die Krankheit nicht nachvollzi­ehen“, sagt Claudia Reich. Geblieben seien zwei, drei Freunde, die sie auch jetzt noch schätzten, da sie allenfalls eine kleine Runde spazieren gehen könne und sonst viel zu Hause bleiben müsse. Durch die Krankheit hat sich ihr Leben in vielen Bereichen neu sortiert. Neu sortieren müssen.

Doch auch wenn sie sich notgedrung­en mit Schmerzen und einer nie gekannten Müdigkeit arrangiere­n muss, eines will Claudia Reich nicht zuletzt vor dem Hintergrun­d, dass ME-CFS auch als Langzeitfo­lge einer Covid-19-Erkrankung an Bedeutung gewinnt, nicht hinnehmen: die mangelnde Versorgung­slage. „Wir Betroffene­n wollen nicht länger übersehen werden“, sagt sie. Deshalb richten so wie sie jedes Jahr Erkrankte am 12. Mai den Appell an die Öffentlich­keit, diese Multisyste­merkrankun­g endlich besser zu erforschen und Therapien zu entwickeln, die es verhindern, dass Erkrankte zum Pflegefall werden. Oder – wie es leider noch zu oft geschieht – sogar aus Verzweiflu­ng ihrem Leben selbst ein Ende setzen.

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FOTO: CLAUDIA REICH Claudia Reich leidet an ME/CFS, einer schweren neuroimmun­ologischen Erkrankung, die viel zu wenig erforscht ist.

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