Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Ups, die falsche Kassette
Wie die AfD in der Geraer Gluthitze angeblich keinen Wahlkampf machen wollte
Musik träufelt durch die Fußgängerzone von Gera, auf Tischen stapeln sich gebrauchte Kindersachen, Bücher, Spielzeugkisten; dazwischen haben die in Thüringen regierenden Parteien Stände aufgebaut. Schließlich ist dies hier nicht bloß ein Flohmarkt, sondern eine Aktion des städtischen „Aktionsbündnisses gegen Rechts“.
Rechts um die Ecke, auf dem Gustav-Hennig-Platz, getrennt durch Absperrgitter und einige Polizisten, hat die Bundestagsfraktion der AfD am Donnerstagabend eine kleine Bühne aufgebaut. Es handelt sich, so steht es jedenfalls in der Ankündigung, um eine „Informationsveranstaltung“zum Jahrestag des Volksaufstands am 17. Juni 1953.
„Pah!“, sagt die junge Frau, die unter dem kleinen roten Zeltdach mit SPD-Logo steht. „Die machen doch Wahlkampf!“Tatsächlich sind es nur etwa 100 Tage bis zur Bundestagswahl, auch Elisabeth Kaiser tritt als einheimische Bundestagsabgeordnete wieder an. Sie selbst ist natürlich ausschließlich aus solidarischen Gründen hier.
Es ist heiß, sehr heiß. Dennoch hat die Sozialdemokratin Kaiser ihre Maske ebenso fest auf dem Gesicht sitzen wie die Polizisten, die in schwarzer Montur und mit ernster Miene vor sich hinschwitzen. Die Verhüllung wirkt angesichts der pandemischen Umstände – die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz der Corona-Infektionen liegt in der Stadt unter 10 – angemessen absurd, aber die Auflagen, die wiederum auf der Landesverordnung basieren, sind noch nicht an das wahre Leben angepasst. Das bedeutet: Pflicht ist Pflicht, auch im Freien und bei 33 Grad im Schatten.
Hinter den Absperrgittern sieht man die Angelegenheit mit den
Masken deutlich entspannter. Neben der Bühne steht ein Mann im weißen Hemd und schicker Sonnenbrille, der auf die Frage, ob das nicht Wahlkampf sei, ein breites Grinsen aufsetzt. „Natürlich nicht!“, antwortet Tino Chrupalla. Derlei Fraktionsveranstaltungen seien bis sechs Wochen vor der Bundestagswahl erlaubt, das wisse er als stellvertretender Vorsitzender seiner Fraktion ganz genau.
Nun ist der sächsische Abgeordnete Chrupalla, das wiederum wissen auch in Gera alle genau, nebenher Bundesvorsitzender der AfD und neuerdings sogar ihr Spitzenkandidat. Was ist sein Wahlziel? „Konsolidierung“, antwortet er. „Wir wollen mindestens das Ergebnis von 2017 wiederholen.“Damals kam die Partei auf 12,6 Prozent. Fast wirkt es so, als sei die AfD bescheiden geworden.
Nach den Vorrednern steigt Tino Chrupalla schließlich auf die Bühne, neben der irgendjemand eine rote Fahne mit schwarz-goldenem Kreuz aufgehängt hat. Einst war sie die Wunschnationalflagge der Hitler-Attentäter, aktuell jedoch wird sie bevorzugt von Reichsbürgern und Pegidisten getragen. Chrupalla scheint sich nicht an der Beflaggung zu stören. Stattdessen beklagt er erwartungsgemäß die „Einschränkung der Meinungsfreiheit“, die „Beschneidung der Grundrechte“sowie die „Auswüchse der grünroten Ideologie“.
Am Ende versammeln sich die Redner auf der Bühne, aus den
Lautsprechern dröhnt die Nationalhymne, dann wird kollektiv zum Playback gesungen: „Deutschland, Deutschland üüüüber alles, üüüüber alles in der Welt ...“
Der Abgeordnete Jürgen Pohl bemerkt offenkundig als Erster, dass der Text, zumindest in der Öffentlichkeit, keine so gute Idee ist. Er geht nach hinten, zur Regie, die Musik bricht ab. „Das war die alte Kassette!“, wird fröhlich aus dem Publikum gerufen. Ups. Chrupalla wirkt wenig amüsiert, er schüttelt den Kopf.
Schließlich ist Pohl zurück auf der Bühne. „So meine Damen und Herren, nach kurzer politischer Störung … äh, Attacke singen wir unsere Nationalhymne, natürlich die dritte Strophe.“