Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Wenn mit dem Lockdown die Magersucht kommt
Zwischen der Pandemie und dem Anstieg von Anorexie gibt es einen Zusammenhang. Das ist die Geschichte von Lilly und Hannah
Lilly hat zum Essen eingeladen. Sie steht in der großen Altbauküche und rührt in einem kleinen Topf. Ihre Eltern und ihre drei Geschwister sind nicht da. Sie ist 17 Jahre alt und will lieber allein von sich erzählen. Von dem, was sie hinter sich hat.
Sie ist Eiskunstläuferin, vor einem Jahr wollte sie noch in die Meisterklasse, die höchste Stufe bei den Frauen, wechseln.
Es gibt Tagliatelle mit Tomatensoße und etwas Käse. Es ist 11.45 Uhr. Dass sie regelmäßig isst, zu gleichen Uhrzeiten und sechsmal am Tag, ist für sie eine große Aufgabe. Sie trägt die zwei Teller eilig durch das Wohnzimmer, vorbei am Klavier, auf den Balkon, dort isst sie gern, weil die Sonne scheint. Früher, noch vor ein paar Monaten, hat sie oft gefroren. Stand sie zwar voller Willen, aber ohne Kraft auf dem Eis. Da wog sie zwölf Kilogramm weniger als heute und war gefährlich unterernährt.
Lilly setzt sich an den Tisch, sie isst. „Ich muss ja essen, weil ich Leistungssportlerin bin“, sagt sie. Leistungswillen ist vielleicht ein Grund, warum sie aufhörte, genug zu essen – aber nicht der einzige.
Ihre Magersucht begann mit dem ersten Lockdown in Deutschland im März 2020. Und nicht nur ihre. Auch Hannah (ihr Name wurde auf ihren Wunsch hin geändert), die 15 Jahre alt ist und am anderen Ende der Stadt wohnt, hat im März 2020 beschlossen abzunehmen. Und neben Lilly und Hannah gibt es viele andere, für die der erste Lockdown der Beginn dieser schweren Krankheit war.
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie meldete kürzlich besorgt, dass „Corona zweifelsohne psychische Belastungen und soziale Benachteiligungen bei Kindern verstärkt“habe. Auch in der Charité, der Berliner Universitätsmedizin, suchten während der Corona-Pandemie mehr junge Menschen mit Angststörungen,
Zwangsstörungen und Depressionen Hilfe. Schon jetzt gebe es ein Krankheitsbild, welches häufiger als sonst auftauche. „Bundesweit und weltweit bemerken wir an allen Kliniken während der Pandemie einen deutlichen Anstieg bei Patientinnen mit Essstörungen“, sagt Professor Christoph Correll, Direktor der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie der Charité. Und die Warteliste für einen Therapieplatz sei lang.
Lillys letzter Wettkampf ist kurz vor dem Lockdown. Sie springt ihren ersten Dreifachsprung, einen Toeloop. Sie wird Siebte im Turnier. Von da an ist klar, sie ist auf dem Weg in die Meisterklasse.
Ihre Tagliatelle hat sie aufgegessen. Aber die Zwischenmahlzeiten einzuhalten, das falle ihr schwer. „Ich weiß heute, dass ich essen muss, um gesund zu bleiben.“
Langfristige Folgen einer Anorexie können ein gestörter Vitaminund Hormonhaushalt, reduzierte Muskelmasse, Osteoporose, Herzrhythmusstörungen und Nierenversagen sein. Die Anorexie ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate, fünf bis sechs Prozent sterben daran.
Als Lilly noch gesund war, aß sie drei Toast mit Nutella zum Frühstück. Dann, in der Zeit von Juni bis Dezember 2020, gibt es morgens nur Haferbrei. Sie erstellt sich selbst einen Trainingsplan, auch im Lockdown bringt sie es so auf vier Stunden Sport täglich. Wenn der Alltag wegbricht, wird bei Menschen wie Lilly das Abnehmen zum System, das Halt gibt. Anorexie wird zum Lebensziel in einer Corona-Welt, in der alles stillsteht. Und zweitens gibt sie den Betroffenen die Kontrolle über sich selbst zurück.
Ab Mai spricht ihre Mutter sie auf ihren dünnen Körper an. Im Sommerurlaub in Italien nehmen die Eltern die Waage mit. Dann verbietet ihr die Ärztin des Olympiastützpunkts das Training. Ende August hat Lilly ihren ersten Termin in der Charité, danach folgen Untersuchungen und Therapie. Sie hat eine Erkenntnis. „Dicksein ist kein Gefühl, es ist ein Gedanke.“Im Rückblick sagt sie heute: „Der Lockdown hat mir alles Normale genommen, die Schule und das Training.“Laut
Correll sind durch den Lockdown auch Kinder und Jugendliche von psychischen Erkrankungen betroffen, die ohne diese Situation nicht erkrankt wären. „In diesem Fall wirkte der Lockdown wie ein Trigger, der die Krankheit erstmalig ausgelöst hat.“
Hannah steckt noch mittendrin im Kampf gegen die Magersucht
Hannah ist 15 Jahre alt. Auch bei ihr bricht im März die Anorexie aus. Hannah sieht nur ihren Bauch. In ihren Augen wird er nicht flach, auch mit 37 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,61 Metern fühlt sie sich im vergangenen September noch zu dick.
Hannah sitzt am Esstisch. Wie Lillys Familie haben die Eltern ein gutes Auskommen, sind gut ausgebildet. Auch Hannas Zuhause ist gutbürgerlich, behütet. Heute wiegt sie etwas über 45 Kilogramm.
Hannah geht es nicht wie Lilly um die Angst, ihre sportlichen Ziele nicht mehr erreichen zu können.
Sie ist eine normale Gymnasiastin, als es passiert. „Als der Lockdown kam, habe ich mich erst voll gefreut. Keine Schule mehr, keine Hausaufgaben mehr, zu Hause sein.“Doch nach kurzer Zeit fehlen ihr die Freunde. Zeitgleich wächst in ihr ein Projekt, sie fühlte sich ihr Leben lang zu dick. Also dachte sie sich: „Dann lebe ich jetzt gesünder und mache mehr Sport.“
Bald fängt sie an, Kalorien zu zählen. Probiert alle möglichen Diäten aus. Wie die Drei-Tage-Diät, in drei Tagen hat sie zwei Toast mit Spiegelei und eine Banane gegessen. Sie schaut Youtube-Videos der Reihe „What I eat in a day“. Da erzählen Menschen, ob dick oder dünn, was sie an einem Tag essen. Irgendwann versucht sie mit nur 100 Kalorien pro Tag auszukommen, das entspricht etwa zwei Äpfeln. „Wenn ich saß, dachte ich, ich fühle, wie der Speck mehr wird.“Dabei fasst sich Hannah an ihren Oberschenkel.
Als das Gewicht fällt, beginnen auch die Konflikte mit den Eltern. Ihren Fragen, warum sie nicht essen will, weicht sie aus. Als dann nach den Sommerferien die Schule wieder beginnt, sprechen sie zwei Mädchen in der Schule an und vertrauen sich einem Lehrer an. Der Lehrer ermahnt sie, sich ihren Eltern zu öffnen. Sie tut es, sie sagt ihnen, dass sie eine „Essstörung“hat.
Am 13. September wird sie in eine Klinik eingewiesen, sie bleibt dort acht Monate. Zwei Mal wird eine Sonde gesetzt, sodass kalorienreiche Flüssigkeit über ihre Nase in ihren Magen fließt.
Hannah nimmt seit Ende Mai an einer Charité-Studie zur familienbasierten Therapie teil. Dabei wohnt sie zu Hause und wird nur ambulant behandelt. Sie erzählt, dass sie froh ist, zu Hause zu sein, und auch, dass sie sich damit abgefunden hat, dass sie zunehmen muss. Sie ist noch etwa vier Kilogramm von ihrem empfohlenen Gewicht entfernt. Ihr Ziel ist es, wieder Sport machen zu dürfen.
Lilly isst wieder, sie möchte später unbedingt Kinder haben. Manchmal gelingt das nach einer Magersucht nicht mehr. Sie wird die Sportschule nach den Sommerferien verlassen und auf ein normales Gymnasium wechseln. Den Leistungssport gibt sie auf. Der Preis, um wieder an ihre Leistungen vor Corona anzuknüpfen, wäre zu hoch. Und vielleicht lebensgefährlich. Dieses Gespräch, sagt sie noch, soll für sie ein Abschluss sein, mit der CoronaPandemie und ihrer Magersucht.
„Der Lockdown hat mir alles Normale genommen, die Schule und das Training.“
Lilly, 17, mit dem Lockdown kam die Magersucht