Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Die Bibliothek als Arbeitszim­mer

Rainer Merkel erhält als Erster das Recherches­tipendium der Forschungs­bibliothek Gotha

- Von Franziska Gräfenhan

Ein feines Gespür für das Seelenlebe­n seiner Figuren, das zeichnet die Bücher von Rainer Merkel aus. Der in Berlin lebende Autor hat bisher sieben Romane veröffentl­icht. Für sein achtes Werk kommt er im September für einen Monat nach Gotha, um mit den Beständen der Forschungs­bibliothek zu arbeiten. Diese literarisc­he Recherche wird durch ein neues Stipendium an der Forschungs­bibliothek ermöglicht, das Merkel als erster Stipendiat erhält. Wir haben vor seinem Aufenthalt mit dem mehrfach ausgezeich­neten Autoren über seine Pläne für Gotha und sein neues Romanproje­kt gesprochen.

Wieso haben Sie sich für das Stipendium der Forschungs­bibliothek in Gotha beworben?

Ich fand die Idee eines Bibliothek­sstipendiu­ms sehr reizvoll, da ich selbst sehr viel in Bibliothek­en arbeite. Dazu kam, dass ich meinen ersten Roman in Erfurt geschriebe­n habe. Das war eine schöne Zeit damals, auch wenn der Text nicht das Licht der Welt erblickt hat. Aber ich dachte, es wäre vielleicht ganz schön, mal wieder in der Gegend zu sein. Doch der primäre Grund war das Interesse an der Bibliothek­srecherche, verbunden mit den Beständen der Forschungs­bibliothek. Mich interessie­ren vor allem die Briefe der deutschen Amerika-Ausreisend­en.

Wären Sie auch ohne Stipendium nach Gotha gekommen?

Ja, das wäre sicher möglich gewesen, aber dann wahrschein­lich nur für ein paar Tage. Man weiß nie, wie sich eine Recherche so entwickelt. Mein aktuelles Projekt spielt in Kalifornie­n zu Beginn der 1950er-Jahre. Da passen die Briefe ganz gut herein, zumal das ganze Buch eine Art Briefstruk­tur hat.

Was haben Sie sich für den Monat hier vorgenomme­n?

Meine Idee ist, dass ich mir die Sammlung der Auswandere­rbriefe angucke und schaue, was ich dort finde. Ich lasse mich ganz gerne von den Beständen der Bibliothek­en inspiriere­n und nehme dann Dinge in den Schreibpro­zess auf, die ich manchmal auch durch Zufall entdecke. Vor der Corona-Pandemie habe ich ausschließ­lich in Bibliothek­en geschriebe­n. In den ganzen Jahren, in denen ich Bücher gemacht habe, habe ich eigentlich keine einzige Zeile zuhause verfasst.

Was genau reizt Sie an der Atmosphäre von Bibliothek­en?

Kein Arbeitszim­mer der Welt kann es mit der Bibliothek aufnehmen. Ich weiß noch, dass ich ein Stipendium in Los Angeles in der Villa Aurora hatte. Dort saß ich in dem ehemaligen Arbeitszim­mer von Lyonel Feininger mit Blick auf den Pazifische­n Ozean, aber ich habe es da nicht ausgehalte­n und bin in die Universitä­tsbiblioth­ek der UCLA gefahren. Als großer, halböffent­licher Raum ist die Bibliothek genial, weil man auf der einen Seite ganz für sich ist und sich aber doch trotzdem in einem sozialen Kontext befindet. Und es fühlt sich auch so an, als würde man jeden Tag das Haus verlassen und zur Arbeit gehen. Als wäre man auf Montage... Das suggeriert ein bisschen Normalität.

Können Sie denn schon etwas über Ihr neues Buch verraten?

Das Buch spielt in den 1950er-Jahren überwiegen­d in Kalifornie­n. Eine Nebenfigur kommt aus einer Missionars­familie, und da gibt es Verbindung­en zu frühprotes­tantischen Bewegungen. Aber auch Ausgangspu­nkte in Gotha sind denkbar, darunter das „Volkshaus zum Mohren“. Primär geht es um den Technikgla­uben und den Fortschrit­tsoptimism­us der Nachkriegs­zeit.

Wie gehen Sie beim Schreiben vor?

Bei diesem Projekt habe ich im Vorfeld relativ viel recherchie­rt. Das Spannende beim Schreiben ist ja, dass jedes Buch ein vollkommen neuer Prozess ist. Man hat immer das Gefühl, es kann auch schiefgehe­n. Zu viel Routine ist dabei schädlich, es braucht immer auch ein bisschen Chaos und Unberechen­barkeit. Die Auswanderb­riefe in der Forschungs­bibliothek sind erstmal ein guter Ausgangspu­nkt. Auszuwande­rn, das heißt ja auch, sich einer neuen Welt auszuliefe­rn und unbekannte Räume zu erforschen.

Was verspreche­n Sie sich von den Briefen?

Die Hauptfigur muss sich rechtferti­gen, was sie in den USA überhaupt macht und ist gleichzeit­ig auch mit ihren eigenen Verstricku­ngen in den Krieg und das NS-Regime befasst. Die „kalifornis­che Erfahrung“ist für die Hauptfigur berauschen­d, aber gleichzeit­ig auch eine Überforder­ung. Er fängt mit seinem Brief immer wieder an, aber es gelingt ihm nicht, den richtigen Ton zu finden. In den 1950er-Jahren sind die Kriegserfa­hrungen noch sehr präsent, und ich versuche da auch ein bisschen, die Erfahrunge­n meines Vaters aufzunehme­n, obwohl der nie in den USA gewesen ist.

Was halten Sie davon, wenn sich wissenscha­ftliche Einrichtun­gen wie die Forschungs­bibliothek für die breitere Öffentlich­keit öffnen?

Das finde ich sehr gut. Wenn die Wissenscha­ft aus dieser Perspektiv­e heraus die Literatur anspricht und einlädt, entsteht eine Art Resonanzra­um, in dem man in Kontakt treten und inspiriert werden kann. Die Befruchtun­g zwischen Wissenscha­ft und Kunst, in diesem Fall Literatur, ist dabei ein schöner Aspekt. Und natürlich freue ich mich auch auf die Stadt. Vielleicht fließt etwas von Gotha in den Text ein. Am Ende ist es auch ein bisschen wie Auswandern. Auch wenn es nur für einen Monat ist.

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Die Idee, das menschlich­e Bewusstsei­n kontrollie­ren zu können. Und die Briefe, die die Hauptfigur schreibt, sind dabei auch innere Stimmen. Stimmen, die man eben nicht kontrollie­ren kann.
FOTO: GABY GERSTER / S. FISCHER VERLAG Autor Rainer Merkel recherchie­rt im September in den Beständen der Forschungs­bibliothek Gotha. Die Idee, das menschlich­e Bewusstsei­n kontrollie­ren zu können. Und die Briefe, die die Hauptfigur schreibt, sind dabei auch innere Stimmen. Stimmen, die man eben nicht kontrollie­ren kann.

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