Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Die Bibliothek als Arbeitszimmer
Rainer Merkel erhält als Erster das Recherchestipendium der Forschungsbibliothek Gotha
Ein feines Gespür für das Seelenleben seiner Figuren, das zeichnet die Bücher von Rainer Merkel aus. Der in Berlin lebende Autor hat bisher sieben Romane veröffentlicht. Für sein achtes Werk kommt er im September für einen Monat nach Gotha, um mit den Beständen der Forschungsbibliothek zu arbeiten. Diese literarische Recherche wird durch ein neues Stipendium an der Forschungsbibliothek ermöglicht, das Merkel als erster Stipendiat erhält. Wir haben vor seinem Aufenthalt mit dem mehrfach ausgezeichneten Autoren über seine Pläne für Gotha und sein neues Romanprojekt gesprochen.
Wieso haben Sie sich für das Stipendium der Forschungsbibliothek in Gotha beworben?
Ich fand die Idee eines Bibliotheksstipendiums sehr reizvoll, da ich selbst sehr viel in Bibliotheken arbeite. Dazu kam, dass ich meinen ersten Roman in Erfurt geschrieben habe. Das war eine schöne Zeit damals, auch wenn der Text nicht das Licht der Welt erblickt hat. Aber ich dachte, es wäre vielleicht ganz schön, mal wieder in der Gegend zu sein. Doch der primäre Grund war das Interesse an der Bibliotheksrecherche, verbunden mit den Beständen der Forschungsbibliothek. Mich interessieren vor allem die Briefe der deutschen Amerika-Ausreisenden.
Wären Sie auch ohne Stipendium nach Gotha gekommen?
Ja, das wäre sicher möglich gewesen, aber dann wahrscheinlich nur für ein paar Tage. Man weiß nie, wie sich eine Recherche so entwickelt. Mein aktuelles Projekt spielt in Kalifornien zu Beginn der 1950er-Jahre. Da passen die Briefe ganz gut herein, zumal das ganze Buch eine Art Briefstruktur hat.
Was haben Sie sich für den Monat hier vorgenommen?
Meine Idee ist, dass ich mir die Sammlung der Auswandererbriefe angucke und schaue, was ich dort finde. Ich lasse mich ganz gerne von den Beständen der Bibliotheken inspirieren und nehme dann Dinge in den Schreibprozess auf, die ich manchmal auch durch Zufall entdecke. Vor der Corona-Pandemie habe ich ausschließlich in Bibliotheken geschrieben. In den ganzen Jahren, in denen ich Bücher gemacht habe, habe ich eigentlich keine einzige Zeile zuhause verfasst.
Was genau reizt Sie an der Atmosphäre von Bibliotheken?
Kein Arbeitszimmer der Welt kann es mit der Bibliothek aufnehmen. Ich weiß noch, dass ich ein Stipendium in Los Angeles in der Villa Aurora hatte. Dort saß ich in dem ehemaligen Arbeitszimmer von Lyonel Feininger mit Blick auf den Pazifischen Ozean, aber ich habe es da nicht ausgehalten und bin in die Universitätsbibliothek der UCLA gefahren. Als großer, halböffentlicher Raum ist die Bibliothek genial, weil man auf der einen Seite ganz für sich ist und sich aber doch trotzdem in einem sozialen Kontext befindet. Und es fühlt sich auch so an, als würde man jeden Tag das Haus verlassen und zur Arbeit gehen. Als wäre man auf Montage... Das suggeriert ein bisschen Normalität.
Können Sie denn schon etwas über Ihr neues Buch verraten?
Das Buch spielt in den 1950er-Jahren überwiegend in Kalifornien. Eine Nebenfigur kommt aus einer Missionarsfamilie, und da gibt es Verbindungen zu frühprotestantischen Bewegungen. Aber auch Ausgangspunkte in Gotha sind denkbar, darunter das „Volkshaus zum Mohren“. Primär geht es um den Technikglauben und den Fortschrittsoptimismus der Nachkriegszeit.
Wie gehen Sie beim Schreiben vor?
Bei diesem Projekt habe ich im Vorfeld relativ viel recherchiert. Das Spannende beim Schreiben ist ja, dass jedes Buch ein vollkommen neuer Prozess ist. Man hat immer das Gefühl, es kann auch schiefgehen. Zu viel Routine ist dabei schädlich, es braucht immer auch ein bisschen Chaos und Unberechenbarkeit. Die Auswanderbriefe in der Forschungsbibliothek sind erstmal ein guter Ausgangspunkt. Auszuwandern, das heißt ja auch, sich einer neuen Welt auszuliefern und unbekannte Räume zu erforschen.
Was versprechen Sie sich von den Briefen?
Die Hauptfigur muss sich rechtfertigen, was sie in den USA überhaupt macht und ist gleichzeitig auch mit ihren eigenen Verstrickungen in den Krieg und das NS-Regime befasst. Die „kalifornische Erfahrung“ist für die Hauptfigur berauschend, aber gleichzeitig auch eine Überforderung. Er fängt mit seinem Brief immer wieder an, aber es gelingt ihm nicht, den richtigen Ton zu finden. In den 1950er-Jahren sind die Kriegserfahrungen noch sehr präsent, und ich versuche da auch ein bisschen, die Erfahrungen meines Vaters aufzunehmen, obwohl der nie in den USA gewesen ist.
Was halten Sie davon, wenn sich wissenschaftliche Einrichtungen wie die Forschungsbibliothek für die breitere Öffentlichkeit öffnen?
Das finde ich sehr gut. Wenn die Wissenschaft aus dieser Perspektive heraus die Literatur anspricht und einlädt, entsteht eine Art Resonanzraum, in dem man in Kontakt treten und inspiriert werden kann. Die Befruchtung zwischen Wissenschaft und Kunst, in diesem Fall Literatur, ist dabei ein schöner Aspekt. Und natürlich freue ich mich auch auf die Stadt. Vielleicht fließt etwas von Gotha in den Text ein. Am Ende ist es auch ein bisschen wie Auswandern. Auch wenn es nur für einen Monat ist.