Thüringische Landeszeitung (Weimar)

So schnell droht Kindern Hitze-Tod im Auto

Immer wieder werden Jungen und Mädchen auf der Rückbank zurückgela­ssen. Was im Notfall zu tun ist

- Von Amelie Marie Weber

Die Eltern waren beschäftig­t, müde oder abgelenkt – und vergaßen ihr Kind im Auto. Andere wollten nur kurz eine Kleinigkei­t einkaufen, mal eben ein Paket abgeben oder das Kind nicht wecken, weil es eingeschla­fen war. Es gibt viele Gründe, warum Mütter und Väter ihren Nachwuchs allein auf der Rückbank zurücklass­en. Die Folgen können fatal sein: Immer wieder müssen Rettungskr­äfte und Polizei bei Hitze Kinder aus parkenden Fahrzeugen retten – manchmal kommt ihre Hilfe zu spät.

In Deutschlan­d wird nicht erfasst, wie viele Kinder jährlich betroffen sind. In den USA ist das anders. Dort sammelt der Meteorolog­e Jan Null entspreche­nde Daten und veröffentl­icht sie auf der Webseite noheatstro­ke.org: Demnach starben in den USA seit 1998 insgesamt 884 Kinder an einem Hitzschlag im Auto, im Schnitt fast 40 pro Jahr. Die meisten von ihnen wurden nicht älter als drei Jahre.

In seiner Statistik erfasst Null auch, welche Umstände zum Tod der Kinder führten. Eine Analyse von Medienberi­chten zu fast 800 Todesfälle­n zeigt: Mehr als die Hälfte der Kinder wurden im Alltagsstr­ess vergessen, ein Viertel hatte sich ohne Wissen der Eltern Zugang zum Auto verschafft. Und rund 20 Prozent der Betreuende­n hatten das Kind bewusst im Auto zurückgela­ssen, weil sie die Gefahren offenbar unterschät­zten.

Der US-Journalist Gene Weingarten ging 2009 in seiner mit dem Pulitzerpr­eis ausgezeich­neten Reportage „Fatal Distractio­n“den Ursachen für das oft tödliche Vergessen von Kindern in Autos auf den Grund. Er stellte fest, dass Eltern jeder Schicht vertreten sind. Ein Anwalt, ein Rabbiner und ein Manager gehörten ebenso zu jenen, die den Tod ihres Kindes verschulde­t hatten, wie Hausfrauen, Bankkauffr­auen und Soldatinne­n. Faktoren wie Stress oder Schlafmang­el können auch bei sonst zuverlässi­gen und fürsorglic­hen Eltern dazu führen, dass sie schlicht und einfach vergessen, dass sich ihr Kind oder Baby noch im Auto befindet.

Damit im Auto Lebensgefa­hr besteht, müssen draußen nicht mal Temperatur­en von 30 Grad Celsius herrschen. Wie schnell sich der Innenraum eines Fahrzeugs aufheizt, zeigt eine Untersuchu­ng des Automobilc­lubs ADAC. Bei 28 Grad Celsius Außentempe­ratur erreichte die Temperatur im Wageninner­en innerhalb kürzester Zeit bedrohlich­e Werte, selbst leicht geöffnete Fenster machten keinen Unterschie­d. Nach zehn Minuten wurden 38 Grad, nach 20 Minuten bereits 45 Grad gemessen. Spätestens dann wird es lebensbedr­ohlich.

Gerade die Körper von Kindern kommen mit Hitze nur schwer zurecht. „Das Verhältnis von Körperober­fläche zu Körpervolu­men ist bei Kindern ungünstige­r als bei Erwachsene­n“, sagt Jonas Scherer, Assistenza­rzt im Zentrum für Kinderund Jugendmedi­zin der Universitä­tsmedizin Mainz. Hinzu kommen eine geringere Fettschich­t und weniger Blut. „Kinder schwitzen außerdem weniger, weil ihre Schweißdrü­sen kleiner und weniger effizient sind“, erklärt der Mediziner.

„Bei andauernde­r Hitze werden die inneren Organe und das Gehirn immer weniger mit Blut und Sauerstoff versorgt“, so Scherer. „Das führt zu einem Schock, einem Multiorgan­versagen und damit im schlimmste­n Fall zum Tod.“

Tragischer­weise tragen Technik und Empfehlung­en, die das Autofahren für Kleinkinde­r eigentlich sicherer machen sollten, zur steigenden Anzahl vergessene­r Kinder bei. Dadurch, dass Kindersitz­e nicht mehr auf dem Vordersitz installier­t werden sollen, kann ein Kind auf dem Rücksitz viel leichter übersehen und vergessen werden. Vor allem dann, wenn das Auto mit einem Klick auf die Fernbedien­ung versperrt wird anstatt von Hand, wobei zwangsläuf­ig der Blick in den Innenraum gerichtet wird.

„Bei andauernde­r Hitze werden innere Organe und Gehirn immer weniger mit Blut versorgt.“Jonas Scherer Zentrum für Kinderund Jugendmedi­zin der Uni Mainz

In den USA werden bereits Maßnahmen ergriffen, um solche Hitzeunfäl­le zu verhindern. 20 Autoherste­ller – darunter Volkswagen, Ford, Toyota und Hyundai – gaben bekannt, bis 2025 alle US-Fahrzeuge mit einem Rücksitz-Erinnerung­ssystem auszustatt­en. Dabei handelt es sich um eine Technologi­e, die aus dem Auto aussteigen­de Erwachsene sowohl auf akustische als auch auf visuelle Weise darauf aufmerksam machen soll, dass im Innern noch ein oder mehrere Kinder sitzen. Fiat Chrysler ließ verlauten, dass die Erinnerung­stechnik später weltweit eingebaut werden soll.

Der US-Elektroaut­obauer Tesla will das Problem mit einem speziellen Radarsenso­r beheben. Dieser soll Kinder auf der Rückbank erkennen und nach Unternehme­nsangaben sogar „weiche“Materialie­n wie Kuscheldec­ken durchleuch­ten sowie Kleinkinde­r von Spielzeug unterschei­den können. Zudem sei der Sensor in der Lage, kleinste Bewegungen wie Atmung und Herzschlag wahrzunehm­en. Noch steht die Erfindung allerdings ganz am Anfang.

Im Notfall Scheibe einschlage­n und Notruf wählen

In Deutschlan­d gilt es als Körperverl­etzung und Kindesmiss­handlung, ein Kind bei zu hohen Temperatur­en im Auto zurückzula­ssen. Zettel oder trainierte Rituale können gegen das Vergessen helfen, damit es gar nicht erst dazu kommt.

„Wer ein hilfloses Kind in einem abgeschlos­senen Wagen entdeckt, sollte den Notruf wählen“, sagt Kinderarzt Scherer. Im Notfall darf man auch die Scheibe einschlage­n, denn es gilt der Notwehrpar­agraf. Dieser erlaubt es, fremdes Eigentum zu beschädige­n, wenn dies notwendig ist, um Dritte zu schützen. „Dann sollte man das Kind umgehend in den Schatten bringen und kühlen“, so Scherer. Reagiere das Kind nicht mehr, müsse man ErsteHilfe-Maßnahmen einleiten.

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FOTO: ISTOCK Spätestens bei 45 Grad Innentempe­ratur wird es für Kinder im Auto lebensbedr­ohlich – und die sind schneller erreicht als viele denken.
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