Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Der Morgen, an dem Thomas Kemmerich aufgibt
Das Buch „Demokratie unter Schock“schildert, warum Thüringen in die Dauerkrise rutscht
Die Neuwahl des Landtags ist abgesagt. Und niemand weiß, auf welche Mehrheit sich die Thüringer Landesregierung in den nächsten Jahren stützen soll. Damit dauert die Krise, die am 5. Februar 2020 mit der Wahl des FDP-Manns Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD eskalierte, weiter an. In seinem neuen Buch erzählt Redakteur Martin Debes, wie sich die Landespolitik in diese einmalige Lage manövrierte. Der stark gekürzte Auszug beginnt am Morgen nach der Wahl des Regierungschefs.
Die Nacht ist kurz für den neuen Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen. Schon am frühen Donnerstagmorgen lässt sich Kemmerich von Weimar zurück nach Erfurt in die Staatskanzlei fahren. Er wird ins Morgenmagazin von ARD und ZDF geschaltet und sagt ungefähr dasselbe wie am Abend zuvor: Dass er eine Regierung bilden wolle, dass es ums Land gehe, und so weiter. Und was sage die Bundes-FDP dazu? „Ich war mit Christian Lindner permanent im Kontakt“, antwortet Kemmerich. „Wir haben auch besprochen, was wir hier in Thüringen beschlossen haben. Er hat gesagt, die Entscheidung trifft letztlich der Thüringer Verband.“
Mittlerweile sind die FDP-Abgeordneten gemeinsam mit CDUFraktionsgeschäftsführer Jacoby in der Regierungszentrale eingetroffen, sie sitzen in dem Besprechungsraum neben dem Ministerpräsidentenbüro. Gemeinsam mit Kemmerich beraten sie alle denkbaren Optionen, von Regieren bis Rücktritt, und alle Möglichkeiten dazwischen. Noch geht die klare Tendenz zum Regieren.
Kurz nach 9 Uhr steht Kemmerich wieder im Barocksaal, er ist live auf Phoenix, dem öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal. Der Moderator im Berliner Studio fragt direkt drauf zu: „Treten Sie heute zurück – oder erst in den nächsten Tagen?“Kemmerich versucht ein Lächeln, schüttelt den Kopf und sagt: „Nein. Ich habe einen Auftrag bekommen, gestern, vom Thüringer Landtag.“
Und was halte er von Neuwahlen? Die seien „keine Option“, antwortet Kemmerich. Man könne ja schließlich das Volk nicht so lange wählen lassen, bis einem das Ergebnis passe. „Wir werden heute noch Gespräche mit der CDU führen, um die politische Zukunft des Landes zu gestalten. Wir werden ein Angebot an SPD und Grüne erneuern.“
Was ist das? Standhaftigkeit? Oder Realitätsverweigerung? Der Ministerpräsident muss bloß aus den Fenstern des Barocksaals blicken, um die Demonstranten zu sehen. Auf der kleinen Wiese des Hirschgartens sind Zelte aufgebaut. „Campen gegen Kemmerich“, steht auf einem Schild. „Wir wollen Neuwahlen“, auf einem anderen. Im Netz hat eine Initiative mehr als 100.000 Unterschriften gesammelt, die ihn zum Rücktritt auffordern.
Der Protest ließe sich womöglich aussitzen, aber die für Kemmerich wirklich gefährliche Entwicklung findet in seiner eigenen Partei statt. Zwar haben ihn einige Solidaritätsadressen aus Sachsen und SachsenAnhalt erreicht. In den deutlich größeren Westverbänden jedoch fordern einige seinen Rücktritt.
Darüber hinaus wird die schleswig-holsteinische FDP seines Freundes Kubicki vom dortigen grünen Regierungspartner unter Druck gesetzt: Auch die Koalition in Kiel könnte nach dem „Dammbruch von Erfurt“wackeln.
Christian Lindner jedenfalls scheint in der Nacht seine Schlussfolgerungen gezogen zu haben. Der Parteivorsitzende befindet sich auf dem Weg nach Erfurt, um seinen Ministerpräsidenten zum geordneten Rückzug zu bewegen. Falls sich Kemmerich weigert, will er ihm ein Ultimatum stellen: Entweder du gehst – oder ich trete zurück.
Um 11 Uhr sitzt der FDP-Bundesvorsitzende in der Staatskanzlei, und redet auf den Ministerpräsidenten ein. Die anderen vier FDP-Abgeordneten warten im Nebenraum, der CDU-Verbindungsoffizier Jacoby geht lieber, als sich Lindner und Kemmerich zu ihnen gesellen.
Dann sagt Lindner, dass er keinerlei Möglichkeit sehe, eine Regierung zu bilden. Es folgen die entscheidenden Sätze: „Heute wird es in jedem Fall einen Rücktritt geben“, sagt er. „Entweder von Thomas Kemmerich oder von mir.“Damit ist die Entscheidung gefallen. Nur die FDP-Abgeordnete Ute Bergner hält noch ein letztes Mal dagegen und ruft schließlich mit hörbarem Frust in der Stimme in Richtung Lindner: „Jetzt haben die Wessis endgültig übernommen!“.
Wenig später, im Erdgeschoss der Staatskanzlei, wo sonst die Regierungspressekonferenzen stattfinden, steht Kemmerich hinter einem silberglänzenden Pult vor einer blauen Wand mit dem Schriftzug „Freistaat Thüringen“. Es ist 14.14 Uhr – und wieder einmal ein sehr spezieller Moment. Der Mann, der gut 24 Stunden zuvor als Ministerpräsident vereidigt wurde, muss offiziell verkünden, dass er keine Regierung bilden kann.
Daraus folge: „Der Rücktritt ist unumgänglich. Die Auflösung des Parlaments ist unumgänglich.“
Das Buch ist auch über die Lesershops dieser Zeitung zu erhalten unter: www.lesershop-thueringen.de