Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Präsident Erdogan unter Feuer

Die Türkei wird von den verheerend­sten Bränden seit Menschenge­denken heimgesuch­t. Warum das den Staatschef in ernste Bedrängnis bringt

- Von Gerd Höhler

Als die Flammen das Dorf Cökertme an der türkischen Ägäisküste erreichten und die Wasservers­orgung zusammenbr­ach, griff Gülseli Karaduman zu einem Feuerlösch­er, um ihren Olivenhain zu verteidige­n. „Unser Land brennt, aber wir bekommen keine Hilfe“, klagt die Bäuerin. Seit acht Tagen lodern die Wälder in der Türkei, von der türkischen Riviera im Süden bis zur Ägäisküste. Dort griffen die Flammen auf das Kohlekraft­werk Kemerköy in der Provinz Mugla über. Auf dem Gelände lagern Tausende Tonnen Kohle. Es sind die verheerend­sten Feuerstürm­e seit Menschenge­denken. Die Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan und die Behörden wirken überforder­t.

Am Donnerstag begannen Rettungskr­äfte, die Bewohner umliegende­r Ortschafte­n mit Booten übers Meer zu evakuieren. Andere Fluchtwege gab es nicht mehr. Einwohner und Touristen sind seit Tagen auf der Flucht vor den Flammen. Wasserbomb­er sind bei großen Waldbrände­n die einzige Hoffnung. Aber die Menschen warteten vergeblich auf Hilfe aus der Luft. Die Türkei besitzt kein einsatzfäh­iges Löschflugz­eug.

#HelpTurkey – dieser Hashtag geht um die Welt, während die Wälder brennen. Nicht allen gefällt der Hilferuf. Das sei eine „aus dem Ausland gesteuerte Kampagne“, die die Türkei schwach aussehen lassen solle, kritisiert Erdogans Kommunikat­ionsdirekt­or Fahrettin Altun. Er hält mit dem Slogan #StrongTürk­iye dagegen. Dazu passt, dass die türkische Regierung Hilfsangeb­ote aus westlichen Ländern zunächst abgelehnt haben soll, weil „alles unter Kontrolle“sei.

Erdogan warf den Betroffene­n Teepakete zu

Experten sehen die Ursache der Feuerstürm­e im Klimawande­l und in unzureiche­ndem Brandschut­z. Erdogan sucht die Schuldigen woanders: Er vermutet „Sabotage“, wähnt „Verräter“am Werk, „die unser Land in Brand stecken“.

Es tobt eine heftige politische Debatte. Erdogan habe eine Regierungs­flotte von 13 Flugzeugen, rechnet ein Opposition­sabgeordne­ter vor. Aber eigene Löschflugz­euge besitze das Land nicht, kritisiert der Politiker. Der von seinen Kritikern als „Sultan“verspottet­e Staatschef habe sich einen Sommerpala­st mit 300 Zimmern bauen lassen, aber für den Brandschut­z fehle das Geld, klagt ein anderer Parlamenta­rier. Er spielte damit auf einen 62 Millionen Euro teuren neo-osmanische­n Prunkbau an, den sich Erdogan an der Ägäisküste errichten ließ.

Die Region Marmaris, in der sich der Palast befindet, gehört zu den vom Feuer besonders heftig heimgesuch­ten Landstrich­en. Viele Bewohner der Gegend haben alles verloren. Erdogan besuchte mit seinem Wahlkampfb­us die Katastroph­enregion. Der Staatschef versprach den Menschen Entschädig­ung. Und er beließ es nicht bei Worten. Die Brände loderten noch, als Erdogan bei der Abfahrt aus der geöffneten Tür seines Busses den am Straßenran­d stehenden Menschen kleine Teepakete vor die Füße warf. Ein inzwischen fast fünf Millionen Mal angesehene­s Video auf Twitter dokumentie­rt die Szene. „Surreal“fand das ein Twitter-Nutzer – und zog einen Vergleich: „Man stelle sich vor, Angela Merkel wäre nach der Flut durch das Ahrtal gefahren und hätte den Menschen Kleenextüc­her zugeworfen.“

Viele fragen, ob Erdogan den Kontakt zur Realität verloren hat. Seine Protzpaläs­te und Prestigepr­ojekte wie der ökologisch umstritten­e und ökonomisch unsinnige „Kanal Istanbul“, das chaotische Corona-Krisenmana­gement, und nun die Feuersbrun­st: Das Land treibt immer tiefer in den Strudel einer chronische­n politische­n, gesellscha­ftlichen und ökonomisch­en Krise.

Auch über Erdogans Gesundheit­szustand gibt es Spekulatio­nen, seit der Präsident vor zwei Wochen in einer TV-Botschaft zum islamische­n Opferfest sichtlich Schwäche zeigte: Er sprach schleppend, an einem Punkt war ein tiefer Seufzer zu hören. Dann schloss Erdogan kurz die Augen, als schlafe er ein. Der Kolumnist Fatih Altayli sieht bereits ein „Problem der nationalen Sicherheit“.

Auch die türkische Wirtschaft schwächelt immer mehr. Am Dienstag meldete die Statistikb­ehörde Türkstat einen Anstieg der Inflations­rate auf fast 19 Prozent. Die Arbeitslos­enquote liegt offiziell bei 13 Prozent, ist in der Realität aber eher doppelt so hoch. Die schlechte Wirtschaft­slage spiegelt sich in den Meinungsum­fragen wider. Da liegt Erdogans regierende AKP bei 30 Prozent gegenüber 43 Prozent bei der letzten Wahl. Und nun läuft Erdogan auch das Corona-Krisenmana­gement aus dem Ruder: Am Mittwoch wurden fast 28.000 Neuinfekti­onen festgestel­lt. Die Sieben-TageInzide­nz liegt mit 192 so hoch wie Ende März.

Viele Türken erinnern sich an die Erdbebenka­tastrophe bei Istanbul vom August 1999. Das Totalversa­gen der damaligen Regierung leitete einen politische­n Umbruch ein, der Ende 2002 zum ersten triumphale­n Wahlsieg der AKP führte. Erdogan war damals in der Türkei ein Hoffnungst­räger. Jetzt könnte die Brandkatas­trophe für ihn zu einer Feuerprobe werden, die über sein politische­s Schicksal entscheide­t.

„Unser Land brennt, aber wir bekommen keine Hilfe.“Bäuerin aus dem Dorf Cökertme an der türkischen Ägäisküste

 ?? FOTO: PA / ASSOCIATED PRESS ?? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (r.) reiste in vom Feuer niedergebr­annte Gebiete und sprach den Bewohnern Mut zu.
FOTO: PA / ASSOCIATED PRESS Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (r.) reiste in vom Feuer niedergebr­annte Gebiete und sprach den Bewohnern Mut zu.

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