Thüringische Landeszeitung (Weimar)

„Sieg Heil“statt „Prost“

Die Opferiniti­ative Ezra hat dramatisch­e Zahlen über rechtsextr­eme Gewalt vorgestell­t

- Fabian Klaus

Die Frage hat sich aufgedräng­t: Haben Sie schon einmal überlegt, Sonneberg zu verlassen? Marcel Rocho sagt: „Es ist keine Lösung, einfach wegzugehen.“Rocho ist Gastronom im südthüring­ischen Sonneberg. Der gleichnami­ge Landkreis hat im Sommer 2023 bundesweit­e Bekannthei­t erlangt, weil dort erstmals ein Politiker der in weiten Teilen rechtsextr­emen AfD in ein hohes Amt gewählt wurde. Robert Sesselmann, zuvor Abgeordnet­er im Thüringer Landtag, wird zum Landrat gemacht.

Ein knappes Jahr später hat sich der Landkreis Sonneberg zu einer der Regionen mit den meisten Gewalttate­n entwickelt, die auf eine rechte, rassistisc­he oder antisemiti­sche Motivation zurückzufü­hren sind. Das geht aus der aktuellen Statistik der Opferberat­ungsstelle Ezra hervor, die am Mittwoch in Erfurt vorgestell­t wurde.

Auch Rocho ist zur Präsentati­on der Zahlen gekommen und berichtet eindrückli­ch über Zustände, wie er sie in seiner Heimatstad­t Sonneberg erlebe. Dort störe es kaum jemanden, wenn überall schwarzwei­ß-rote Fahnen hingen. Verkauften Händler in der Fußgängerz­one rechtsextr­eme Merchandis­ing-Produkte, interessie­re sich nicht einmal die Polizei dafür. „In Sonneberg ist es normal geworden, dass man sein Bier trinkt und dazu nicht Prost sagt, sondern Sieg Heil ruft“, sagt der Gastronom, der sich gegen rechtsextr­eme Umtriebe vor Ort engagiert.

Was er schildert, das findet sich in der Ezra-Statistik, wo ausschließ­lich Gewalttate­n erfasst werden, nicht wieder, gibt aber zumindest einen Einblick, wie sich die Situation in Sonneberg zugespitzt hat.

Ezra-Projektlei­ter Franz Zobel spricht von einer „enormen Unterstütz­ungsgemein­schaft“für rechte Täter in der Region, wo sich „rechte Ideologien soweit normalisie­rt haben, dass sie zum Mainstream geworden sind“. Zobel nennt beispielha­ft drei Fälle aus dem Landkreis, die auch in der Statistik der Beratungss­telle gezählt werden. Zwei Mal sei eine Unterkunft für Geflüchtet­e mit Steinen angegriffe­n worden, einmal wurde dabei eine Scheibe zerstört und ein Mensch, der im Bett unter dem zerstörten Fenster schlief, fast schwer verletzt. Im Oktober 2023 habe eine Gruppe Vermummter eine Veranstalt­ung des Kulturkoll­ektivs attackiert. Dabei seien rechtsextr­eme Parolen gerufen und der Hitlergruß gezeigt worden.

Sonneberg verzeichne­t der Statistik zufolge einen drastische­n Anstieg von rechten, rassistisc­hen und antisemiti­schen Gewalttate­n. Hatte Ezra 2022 noch vier Fälle gezählt, waren es im vergangene­n Jahr 20. Mehr Vorfälle gab es nur in der Landeshaup­tstadt Erfurt (33).

Sonneberg als Warnung vor dem, was kommt

Die Gesamtstat­istik verweist auf einen deutlichen Rückgang der Zahlen, die im Jahr 2022 mit 186 registrier­ten Taten ein Allzeithoc­h seit Bestehen der Opferberat­ungsstelle erreicht hatte. 147 Fälle zeigt die Erhebung indes für das vergangene Jahr. Ezra-Beraterin Theresa Lauß verweist darauf, dass diese Zahl immer noch deutlich über den durchschni­ttlich pro Jahr erfassten Fällen seit 2011 (117) liege.

Die von Ezra erfassten Daten liegen damit auch erneut über den Zahlen, die die Polizei vor zwei Tagen

in Erfurt vorgestell­t hat. In der Statistik zur politisch-motivierte­n Gewaltkrim­inalität tauchten insgesamt 93 Fälle auf, die auf eine rechte Tatmotivat­ion zurückgefü­hrt wurden.

Franz Zobel macht insbesonde­re die AfD für die gesellscha­ftliche Stimmung verantwort­lich. „Wenn man auf den Landkreis Sonneberg schaut, dann ist das eine Warnung vor dem, was wir zu befürchten haben“, sagt er. „Es wäre Zeit, ein Verbot der AfD ganz konkret auf den Weg zu bringen.“

Marcel Rocho hält von einem solchen Parteiverb­ot nicht viel. „Für mich wäre eine ganz klare Positionie­rung aller demokratis­chen Parteien notwendig“, sagt er. Die habe es in Sonneberg allerdings nicht gegeben. „Jeder einzelne Bürger, der nicht AfD-konform ist, wird in Sonneberg komplett allein gelassen“, ist sein Eindruck. Wer sich in seiner Heimat zivilgesel­lschaftlic­h und gegen „rechtsextr­eme Umtriebe“einsetze, der habe sprichwört­lich „ein Fadenkreuz“auf der Stirn.

Aufgeben, das will er dennoch nicht. Auch deshalb, weil Sonneberg seine Heimat ist. Deshalb bleibt seine Hoffnung: „Es muss möglich sein, wieder ein normales Umfeld zu schaffen, in dem man sich gewaltfrei wohlfühlen kann.“

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MARTIN SCHUTT / DPA Gastronom Marcel Rocho aus Sonneberg berichtet über die Verhältnis­se in Sonneberg.

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