Thüringische Landeszeitung (Weimar)
„Sieg Heil“statt „Prost“
Die Opferinitiative Ezra hat dramatische Zahlen über rechtsextreme Gewalt vorgestellt
Die Frage hat sich aufgedrängt: Haben Sie schon einmal überlegt, Sonneberg zu verlassen? Marcel Rocho sagt: „Es ist keine Lösung, einfach wegzugehen.“Rocho ist Gastronom im südthüringischen Sonneberg. Der gleichnamige Landkreis hat im Sommer 2023 bundesweite Bekanntheit erlangt, weil dort erstmals ein Politiker der in weiten Teilen rechtsextremen AfD in ein hohes Amt gewählt wurde. Robert Sesselmann, zuvor Abgeordneter im Thüringer Landtag, wird zum Landrat gemacht.
Ein knappes Jahr später hat sich der Landkreis Sonneberg zu einer der Regionen mit den meisten Gewalttaten entwickelt, die auf eine rechte, rassistische oder antisemitische Motivation zurückzuführen sind. Das geht aus der aktuellen Statistik der Opferberatungsstelle Ezra hervor, die am Mittwoch in Erfurt vorgestellt wurde.
Auch Rocho ist zur Präsentation der Zahlen gekommen und berichtet eindrücklich über Zustände, wie er sie in seiner Heimatstadt Sonneberg erlebe. Dort störe es kaum jemanden, wenn überall schwarzweiß-rote Fahnen hingen. Verkauften Händler in der Fußgängerzone rechtsextreme Merchandising-Produkte, interessiere sich nicht einmal die Polizei dafür. „In Sonneberg ist es normal geworden, dass man sein Bier trinkt und dazu nicht Prost sagt, sondern Sieg Heil ruft“, sagt der Gastronom, der sich gegen rechtsextreme Umtriebe vor Ort engagiert.
Was er schildert, das findet sich in der Ezra-Statistik, wo ausschließlich Gewalttaten erfasst werden, nicht wieder, gibt aber zumindest einen Einblick, wie sich die Situation in Sonneberg zugespitzt hat.
Ezra-Projektleiter Franz Zobel spricht von einer „enormen Unterstützungsgemeinschaft“für rechte Täter in der Region, wo sich „rechte Ideologien soweit normalisiert haben, dass sie zum Mainstream geworden sind“. Zobel nennt beispielhaft drei Fälle aus dem Landkreis, die auch in der Statistik der Beratungsstelle gezählt werden. Zwei Mal sei eine Unterkunft für Geflüchtete mit Steinen angegriffen worden, einmal wurde dabei eine Scheibe zerstört und ein Mensch, der im Bett unter dem zerstörten Fenster schlief, fast schwer verletzt. Im Oktober 2023 habe eine Gruppe Vermummter eine Veranstaltung des Kulturkollektivs attackiert. Dabei seien rechtsextreme Parolen gerufen und der Hitlergruß gezeigt worden.
Sonneberg verzeichnet der Statistik zufolge einen drastischen Anstieg von rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten. Hatte Ezra 2022 noch vier Fälle gezählt, waren es im vergangenen Jahr 20. Mehr Vorfälle gab es nur in der Landeshauptstadt Erfurt (33).
Sonneberg als Warnung vor dem, was kommt
Die Gesamtstatistik verweist auf einen deutlichen Rückgang der Zahlen, die im Jahr 2022 mit 186 registrierten Taten ein Allzeithoch seit Bestehen der Opferberatungsstelle erreicht hatte. 147 Fälle zeigt die Erhebung indes für das vergangene Jahr. Ezra-Beraterin Theresa Lauß verweist darauf, dass diese Zahl immer noch deutlich über den durchschnittlich pro Jahr erfassten Fällen seit 2011 (117) liege.
Die von Ezra erfassten Daten liegen damit auch erneut über den Zahlen, die die Polizei vor zwei Tagen
in Erfurt vorgestellt hat. In der Statistik zur politisch-motivierten Gewaltkriminalität tauchten insgesamt 93 Fälle auf, die auf eine rechte Tatmotivation zurückgeführt wurden.
Franz Zobel macht insbesondere die AfD für die gesellschaftliche Stimmung verantwortlich. „Wenn man auf den Landkreis Sonneberg schaut, dann ist das eine Warnung vor dem, was wir zu befürchten haben“, sagt er. „Es wäre Zeit, ein Verbot der AfD ganz konkret auf den Weg zu bringen.“
Marcel Rocho hält von einem solchen Parteiverbot nicht viel. „Für mich wäre eine ganz klare Positionierung aller demokratischen Parteien notwendig“, sagt er. Die habe es in Sonneberg allerdings nicht gegeben. „Jeder einzelne Bürger, der nicht AfD-konform ist, wird in Sonneberg komplett allein gelassen“, ist sein Eindruck. Wer sich in seiner Heimat zivilgesellschaftlich und gegen „rechtsextreme Umtriebe“einsetze, der habe sprichwörtlich „ein Fadenkreuz“auf der Stirn.
Aufgeben, das will er dennoch nicht. Auch deshalb, weil Sonneberg seine Heimat ist. Deshalb bleibt seine Hoffnung: „Es muss möglich sein, wieder ein normales Umfeld zu schaffen, in dem man sich gewaltfrei wohlfühlen kann.“