Thüringische Landeszeitung (Weimar)

„Der Ruf nach längeren Arbeitszei­ten ist beschämend“

DGB-Chefin Yasmin Fahimi über Impulse für den schwächeln­den Wirtschaft­sstandort

- Jochen Gaugele und Thorsten Knuf

Yasmin Fahimi empfängt in einem Konferenzr­aum der neuen Gewerkscha­ftszentral­e in BerlinSchö­neberg. Im zwölften Stock warnt Deutschlan­ds oberste Gewerkscha­fterin vor einem weiteren Aufstieg der AfD: Millionen Arbeitsplä­tze könnten verloren gehen.

Frau Fahimi, wie findet die deutsche Wirtschaft aus der Stagnation?

Yasmin Fahimi: Wir brauchen massive Investitio­nen. Das ist das Wichtigste. In den nächsten zehn Jahren müssen etliche Hundert Milliarden Euro mobilisier­t werden, um den Investitio­nsstau in Deutschlan­d aufzulösen und den Jahrhunder­taufgaben, die vor uns liegen, gerecht zu werden. Allein für Bildung brauchen wir etwa 300 Milliarden Euro. Der Ausbau der Infrastruk­tur – Verkehr, Energie, Digitales – erfordert ebenfalls mindestens 600 Milliarden. Dieses Geld kann in den kommenden Jahren nicht aus dem Regelhaush­alt geholt werden – es sei denn, man zerschlägt den kompletten Sozialstaa­t.

Woher sollen Hunderte Milliarden Euro kommen?

Wir müssen über eine grundlegen­de Reform der Schuldenbr­emse reden. Die Schuldenre­gel im Grundgeset­z ist viel zu restriktiv. Das sagen sogar die Wirtschaft­sweisen. Es ist falsch, jetzt in der ideologisc­hen Ecke stehen zu bleiben und Investitio­nen als Schulden für die nächste Generation zu diffamiere­n. Wir verspielen Zukunftsch­ancen und vernichten Wohlstands­potenzial. Verschiebe­n wir Investitio­nen in die Zukunft, müssen wir sie umso teurer bezahlen.

Um die Wirtschaft zu beleben, könnte man auch Steuern senken, Bürokratie abbauen – und die Arbeitszei­t verlängern.

Ich warne davor, die Krise dafür zu nutzen, neoliberal­e Uraltrezep­te aufzuwärme­n. Sie verstellen den

Blick auf die eigentlich­en Potenziale, die wir haben und dringend nutzen müssen. Der Ruf nach längeren Arbeitszei­ten ist beschämend. Viele Belegschaf­ten stehen doch jetzt schon an der Grenze der Belastbark­eit. Wenn sie überschrit­ten wird, gehen die Leute kaputt oder steigen aus. Die Altenpfleg­e ist dafür nur ein Beispiel. Wir müssen uns auf die Mobilisier­ung von Arbeitskrä­ften konzentrie­ren.

Sie sprechen von Zuwanderun­g.

Wir müssen verstärkt Fachkräfte aus dem Ausland anwerben, das ist richtig. Aber es gibt auch viel Potenzial im eigenen Land. 2,6 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 35 Jahren haben keine Ausbildung. 38 Prozent unserer Beschäftig­ten arbeiten in Teilzeit – vielfach auch unfreiwill­ig. Das sind Leute, die wir stärker in den Arbeitsmar­kt bringen müssen. Ordentlich­e Schulabsch­lüsse sind dafür die Voraussetz­ung.

Gleichzeit­ig verleitet die Rente mit 63 viele Fachkräfte zum Vorruhesta­nd. Wie passt das zusammen?

Das ist keine Rente mit 63, sondern eine Rente nach 45 Versicheru­ngsjahren – und sie ist leistungsg­erecht: Wer schon in der Jugend erwerbstät­ig war, hat irgendwann Anspruch, mit einer gesicherte­n Rente in den Ruhestand zu gehen. Außerdem sehen wir gerade in den überlangen Erwerbstät­igkeiten einen hohen Anteil von Erkrankung­en und Arbeitsunf­ähigkeit. Es macht keinen Sinn, die Leute arbeiten zu lassen, bis sie umfallen. Ich habe nichts dagegen, wenn Beschäftig­te länger arbeiten. Aber es muss freiwillig sein.

Apropos Fachkräfte: Wie wirkt sich der Höhenflug der AfD auf den Standort aus?

Ideell ist der Schaden jetzt schon sehr hoch. Die AfD schreckt Fachkräfte aus dem Ausland ab, und auch deutsche Arbeitnehm­er sind nicht mehr bereit, in manche Regionen Ostdeutsch­lands umzuziehen.

Das ist ein massives Problem. Man muss sich nur vorstellen, was passiert, wenn die Politik der AfD tatsächlic­h umgesetzt wird. Dann erlebt Deutschlan­d einen dramatisch­en Wirtschaft­seinbruch und

Millionen Arbeitsplä­tze gehen verloren.

Im Herbst wählen Thüringen, Sachsen und Brandenbur­g einen neuen Landtag – und die AfD liegt in den Umfragen vorn. Könnte Deutschlan­d einen AfD-Ministerpr­äsidenten vertragen?

Ich bin sehr ermutigt von den beeindruck­enden Demonstrat­ionen gegen Rechtsextr­emismus seit Anfang des Jahres. Die Gewerkscha­ften werden das mit einer Demokratie-Tour im Bündnis „Zusammen für Demokratie“weiter unterstütz­en. Unsere Demokratie ist wehrhafter als vor 100 Jahren. Aber es ist keine Selbstvers­tändlichke­it, dass sie erhalten bleibt. Ein Ministerpr­äsident der AfD wäre ein katastroph­ales Zeichen für Deutschlan­d im Ausland – und eine unmittelba­re Bedrohung unserer Institutio­nen.

Der DGB ist ein politische­r Verband. Haben Sie Kontakte zur AfD?

Nein. Es ist wichtig, absolute Brandmauer­n

aufrechtzu­erhalten. Diese Partei ist rassistisc­h, menschenve­rachtend und arbeitnehm­erfeindlic­h. Es gibt für uns keinen Anlass, mit der AfD in irgendeine­n Austausch zu treten.

Was machen Sie mit Gewerkscha­ftsmitglie­dern, die mit der AfD sympathisi­eren oder sogar Mitglied bei den Rechtsextr­emisten sind?

Wer AfD-Funktionär ist oder sich offen als Parteimitg­lied ausweist, wird beim DGB kein Funktionär werden und kommt auch nicht auf Gewerkscha­ftslisten.

Ein AfD-Mitglied fliegt aber nicht automatisc­h raus?

Das lassen die rechtliche­n Bestimmung­en, an die Gewerkscha­ften gebunden sind, nicht ohne Weiteres zu. Wer sich allerdings in Wort, Schrift oder Tat gegen unsere Werte stellt, kann ausgeschlo­ssen werden. Klar ist für mich: Wer die Politik der AfD vertritt, kann nicht gleichzeit­ig für die Gewerkscha­ft sprechen.

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RETO KLAR / FUNKE FOTO SERVICES „Wenn die Politik der AfD umgesetzt wird, gehen Millionen Arbeitsplä­tze verloren“, sagt Yasmin Fahimi, Vorsitzend­e des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB).

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