Wie sich Risse allein schließen
Selbstheilende Materialien stammten einst aus der Science-Fiction-Welt, heute sind sie real. Durch intelligente Prozesse können sie sich selbst reparieren – egal, was für Schäden: Schnitte, Risse oder Brüche. Diese Materialien enthalten lebende biologische Zellen, die ihnen Eigenschaften verleihen, wie sie eigentlich nur in der Natur vorkommen. Das Vorbild ist die menschliche Haut. Solche lebenden Materialien bestehen im Grunde genommen aus zwei Komponenten: aus Organismen wie Hefen oder Bakterien, die eine bestimmte Funktion erfüllen sollen und entsprechend programmiert sind, und aus einem Trägermaterial, in das die lebenden Organismen eingeschlossen werden.
Diese Organismen verfügen über besondere Stoffwechseleigenschaften und können verschiedenartige Stoffe produzieren, von anorganischen Salzen über Metalloxide und Biopolymere bis hin zu hochwirksamen medizinischen Wirkstoffen. Diese Fähigkeit kann genutzt werden, um technische und medizinische Materialien mit neuartigen Funktionen herzustellen, die nicht-lebende Materialien nicht besitzen. Dazu gehören eben Selbstregeneration des Materials nach Beschädigung, eine flexible Anpassung an Umweltreize oder extreme Langlebigkeit.
Die Baustoffindustrie forscht seit Langem zu selbstreparierenden Baustoffen. Mit Erfolg. Es gibt Beton, der sich selbst heilt. Möglich machen das Bakterien, die in Form von Sporen in den Beton eingegossen werden. Sporen können Jahrzehnte und Jahrhunderte überleben. Entsteht in dem Beton ein Riss, erweckt dort eindringendes Wasser die Sporen zum Leben. Sie beginnen, Calciumcarbonat zu erzeugen – Kalk. Dieser Kalk verschließt den Riss von innen heraus. Indem die
Milliarden US-Dollar
Bakterien die entstandenen Risse „heilen“, hält der Beton länger, ein Abriss ist nicht nötig. Das spart Ressourcen, Energie und Treibhausgase.
Auf Selbstheilung von Beton setzt auch die Universität von Cambridge. Die Forschenden haben per 3D-Druck eine Stützkonstruktion aus Beton gedruckt. Sie ist nicht nur filigraner und damit materialsparender als vergleichbare gegossene Teile. Sie verfügt auch über Sensoren, die die Konstruktion über Jahrzehnte selbst überwachen und Selbstreparaturen eigenständig anstoßen können. Der Selbstheilungseffekt funktioniert auch bei Farben und Lacken. Sie waren zunächst für selbstreparierende Autolacke gedacht. Doch was bei mikroskopisch kleinen Kratzern bereits funktioniert, die beispielsweise in der Waschanlage entstehen, hinterlässt bei fürs bloße Auge sichtbaren Lackkratzern eine (ver-)störende Kraterlandschaft.
Auch in der Medizintechnik könnten interessante Anwendungen entstehen, zum Beispiel im Bereich von Implantaten oder Wearables für das Monitoring von Krankheiten oder auch im Bereich der Low-cost-Sensorik für das Umweltmonitoring. Eine Anwendung, die sich heute schon abzeichnet, sind zum Beispiel Aktuatoren für Softrobotik. Da geht es um Materialien, die ihre Form oder ihr Volumen ändern, wenn sie Licht, externen Impulsen, Feuchtigkeit oder gewissen Substanzen ausgesetzt sind. Auch interessant: selbst nachwachsende Beschichtungen. Schaeffler arbeitet bei seiner Spezialbeschichtung „Corrotect“, einem Korrosionsschutz für Wälzlager und Präzisionsteile, mit ultradünnen Schichten von Nanopartikeln aus Siliziumoxid, der sich bei einem Schaden durch den Kontakt mit Sauerstoff selbst heilen kann.
Professorin Aránzazu del Campo, wissenschaftliche Geschäftsführerin am Leibnitz-Institut für Neue Materialien, will mit ihren Forschungen Werkstoffen neues Leben einhauchen, benennt aber auch Problemfelder, vor allem mit Blick aufs Recycling: „Wichtig ist, die Frage zu klären, wie man gewährleistet, dass durch die Nutzung von lebenden Materialien keine Gefahren für die Umwelt entstehen – Stichwort Biocontainment, also die Biosicherheit von Labors. Beispielsweise muss man schon in der Materialentwicklung einplanen, dass die enthaltenen Zellen unter bestimmten Bedingungen nicht überleben können.“Trotz aller Fortschritte in der Bionik – noch scheint nicht alles entschlüsselt zu sein.