Jeanny kann einpacken
Heute gibt es an dieser Stelle keinen locker flockigen Einstieg. Keine Scherze, keine Szene, keine Anekdote aus dem Autorenleben. Mir ist wichtig, hier eine Triggerwarnung auszusprechen: Im folgenden Text werden Dinge wie Selbstmord und Gewalt thematisiert. Wem das nah geht oder belastet, der darf gerne aufhören, zu lesen. Für alle anderen: Los geht’s.
So ein bisschen Anekdote machen wir dann doch. Ich bin mit Musikvideos aufgewachsen. Damals, Ende der Neunziger, lief MTV rauf und runter. Zwischen der tanzenden Gwen Stefani in
der traurigen
Kelly Clarkson mit und dem noch traurigeren Justin Timberlake mit lief zwischendurch auch mal ein echt gutes Video.
Was macht ein solches überhaupt aus? Für mich ganz einfach: Gute Musikvideos schaffen es in wenigen Minuten, eine Geschichte zu erzählen. Sind Spielfilme in Kurzform. Schafft ein Clip das, erinnern wir uns lange später daran. Beispiele: Falcos oder Meat Loafs
Und: von Pearl Jam. Jenes Video, das mich bereits beim ersten Schauen an den Bildschirm gefesselt hat – und es auch heute noch schafft.
Video und Song thematisieren den 15-Jährigen Jeremy, der von seinen Mitschülern gemobbt wird – bis er beschließt, sich vor der Klasse zu erschießen. All das basiert auf dem wahren Fall des Jeremy Delle, der sich 1991 in Texas das Leben nahm. Pearl-JamSänger Eddie Vedder wählte die Geschichte, weil er in der siebten Klasse einen Mitschüler mit ähnlichen Problemen hatte. Auch dieser sei irgendwann mit einer Waffe in die Schule gekommen, ausgerastet und habe gegen ein Aquarium geschossen.
Und Vedder ging noch einen Schritt weiter: Als das Video 1993 mit vier MTV-Music-Awards ausgezeichnet wurde, sagte er in seiner Dankesrede, dass er sich vermutlich auch vor der Klasse selbst erschossen hätte, wenn es nicht die Musik gegeben hätte. „Die Musik hat mich am Leben gehalten“, sagte Vedder. Die Auszeichnungen feierte Pearl Jam übrigens damit, dass sie bis 1998 kein weiteres Video veröffentlichten.
Was den Regisseur des Videos sehr störte, war ein Eingriff von MTV. Der Sender wies an, dass die Stelle, in der der Schüler die Pistole in seinen Mund hält, herausgeschnitten wird. Das sorgte jedoch dafür, dass man Jeremy sieht, wie er mit der Waffe in die Klasse kommt – in der nächsten Szene sieht man die teilweise blutverschmierten Mitschüler. Viele dachten deshalb, Jeremy habe einen seiner Klassenkameraden erschossen.
Alles in allem muss ich sagen: Es gibt kein Musikvideo, das ich derart packend und wichtig finde. Und ja, da kann auch mein Platz zwei, einpacken.