Schreibtischtäter im Dienst des Tatorts
Ohne Skriptschreiber gäbe es kein Fernsehverbrechen. Harald Göckeritz erzählt, wie das funktioniert.
LUDWIGSHAFEN (dpa) Wenn Deutschlands dienstälteste „Tatort“Lena Odenthal den Mörder sucht, weiß Harald Göckeritz längst, wer es ist. Mehr noch: Er hat dem Verbrecher die Tat regelrecht vorgeschrieben – und das wortwörtlich.
Denn Göckeritz ist Drehbuchautor und hat etliche Odenthal-Skripte verfasst, die dann von unterschiedlichen Regisseuren inszeniert wurden. Darunter sind Quotenhits wie „Kleine Zeugin“und „Leyla“– und auch „Tatort“-Folgen für andere Teams. Am 7. Januar zeigt die ARD den nächsten Rheinland-PfalzSonntagskrimi aus der Feder von Göckeritz: „Tatort - Avatar“. Natürlich gibt es wieder Tote.
Vier bis sieben Monate braucht Göckeritz für ein „Tatort“-Drehbuch. Genau sei das nicht zu beziffern, erklärt er im Gespräch der Deutschen Presse-Agentur an seinem Wohnort bei München. „Das ist fließend. Es entstehen Pausen, die Nettozeit ist schwer zu sagen.“
Und wie kommt er auf die Fälle für Ermittlerin Odenthal (Ulrike Folkerts)? „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bei Krimis wahre Geschichten hilfreich sind“, sagt er. Die finde er im Internet oder in der Zeitung. „Oft sind es Abstrusitäten. Fälle, bei denen man denkt: Das gibt es doch gar nicht, das kann man überhaupt nicht erfinden.“Dazu kommt die eigene Fantasie. „Sich Geschichten auszudenken, ist nun mal mein Beruf.“
Wie wird man das: Drehbuchautor? „Ich wollte schon immer schreiben“, erzählt Göckeritz. „Ich war an der Filmhochschule München, habe einen Drehbuchabschluss gemacht und drei Jahre als Regieassistent gearbeitet. Da lernt man zum Beispiel, Aufwand und Kosten einer Szene einzuschätzen. Beim Verfassen des Drehbuchs ist das sehr hilfreich.“
Aus der Feder von Göckeritz stammen bei weitem nicht nur „Tatort“Drehbücher. Für das Skript des Liebesdramas „Grüße aus Kaschmir“erhielt er 2005 den renommierten Adolf-Grimme-Preis. Der Udo-Jürgens-Zweiteiler „Der Mann mit dem Fagott“wurde 2011/12 unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis und dem Bambi ausgezeichnet.
Aber seine ersten Drehbücher wollte niemand lesen, erzählt Göckeritz. „Irgendwann habe ich für den SWR ein Drehbuch über ein unheilbar krankes Mädchen namens Nana geschrieben. Es wurde ein sehr erfolgreicher Film, der häufig wiederholt wird“, so der Autor. „Jetzt habe ich mit demselben Team bei „Tatort - Avatar“gearbeitet - 30 Jahre später. Dass man nach so langer Zeit wieder zusammenkommt, ist selten und sehr schön.“Für „Nana“erhielt Göckeritz den Deutschen Jugendfilmpreis und eine Nominierung für den Grimme-Preis.
Und was sind die Zutaten für einen guten Rheinland-Pfalz-„Tatort“? „Die Erkennungsmerkmale sind natürlich die beiden Kommissarinnen. Ulrike Folkerts und Lisa Bitter haben bestimmte Eigenschaften im Auftreten, die erkennbar bleiben sollten. Sonst würde die Figur einfach nicht stimmen.“Alles Weitere sei fallabhängig.
Ulrich Herrmann, Redaktionsleiter „Tatort“beim SWR, kennt Göckeritz seit 30 Jahren. „Harry, wie ihn alle nennen, ist ein subtiler Autor, der von Fassung zu Fassung seinen Figuren näher rückt und sie niemals denunziert“, sagt er. Das mache ihn gerade für „Tatort“so spannend, wo die stärksten Episoden Spannung mit Drama verknüpften. „Ohne das Drama wäre das Format nie zur ikonischen Marke geworden. Harry ist ein Autor, der furchtlos in Abgründe der menschlichen Existenz blickt, ein Autor, der mit seinen Subtexten Panzerwände durchdringt.“
Es gibt aber auch etwas, was Göckeritz am „Tatort“-Format unpassend findet: Es werde wiederholt versucht, Ermittlern ein Privatleben zu schaffen. „Das funktioniert in den wenigsten Fällen.“
Den Ludwigshafen-„Tatort“gebe es meist nur zwei Mal im Jahr. „Da kann man solche durchgehenden Nebenstränge schwer fortführen. Das Privatleben kollidiert erfahrungsgemäß auch oft mit der Krimispannung“, erläutert Göckeritz. „Etwas anderes ist, wenn man der Figur beispielsweise ein Trauma gibt, das für die Geschichte wichtig ist. Etwa, wenn sie Höhenangst hat und auf ein Dach klettern muss.“
Neben der Persönlichkeit der Ermittlerinnen sei die Lokalität Ludwigshafen für die Handlung wichtig. Tabuthemen gebe es nicht. Die erste Version des Drehbuchs lese seine Familie. „Erstens ist ein solches Feedback sehr interessant, zweitens ist mein ältester Sohn bei der Münchner Drehbuchwerkstatt“, so Göckeritz. „Da bekomme ich beides: Zuschauer und Profi.“
Zwischen erstem Entwurf und Endfassung liegen dem Autor zufolge üblicherweise drei oder vier Versionen. „Redaktion, Regisseur und Schauspielerinnen haben eigene Vorstellungen und bringen Ideen ein. Ulrike Folkerts und Lisa Bitter kennen ihre Figur am besten. Wie sie ihre Figur sehen, ist wichtig - daraus entstehen gute, spannende Ideen.“Manchmal ändere sich das Ende oder sogar der Täter.
Und wie oft schaut er Filme und denkt: Das Drehbuch taugt nichts? „Das kommt häufiger mal vor, wobei oft nicht klar ist, ob es tatsächlich am Drehbuch oder am Entstehungsprozess liegt.“Geld, Zeit und Produktionsbedingungen hätten massive Auswirkungen auf einen Film. „Darüber wird nie viel nachgedacht. Oft heißt es pauschal: Die Schauspieler haben aus einem schlechten Drehbuch das Beste gemacht.“