Trierischer Volksfreund

„Vom Prinzip her gibt es keine Grenze, es geht immer weiter“

Was macht es mit einer Gesellscha­ft, wenn das Ego Einzelner immer größer zu werden scheint? Die Soziologin Dr. Anja Röcke hat sich in ihrem Buch „Soziologie der Selbstopti­mierung“intensiv mit dem Thema beschäftig­t.

- DAS INTERVIEW FÜHRTE KATJA BERNARDY.

Anja Röcke ist 45 Jahre alt und eine deutsche Soziologin. Sie lehrt und forscht in Berlin und Saarbrücke­n. Ihr Buch „Soziologie der Selbstopti­mierung“stieß auch außerhalb der akademisch­en Welten auf großes Interesse, denn Selbstopti­mierung ist längst alltäglich geworden und geht uns alle an. Die Soziologin selbst ist jedoch kein Fan dieses Phänomens, das spätestens in den 2010er-Jahren immer häufiger in den Medien auftauchte. Warum, das erzählt Anja Röcke im TV-Interview.

Liebe Frau Dr. Röcke, wann haben Sie sich zuletzt selbst optimiert?

ANJA RÖCKE Ich interessie­re mich für Selbstopti­mierung, das ist mein Forschungs­gebiet, aber ich optimiere mich nicht selbst. Als jemand, der dazu forscht, habe ich nochmal einen anderen Blick auf das Thema.

Bevor ich Sie danach frage, warum Sie sich nicht selbst optimieren, können Sie bitte erklären, was genau Selbstopti­mierung eigentlich ist?

RÖCKE Allgemein kann man sagen, es geht darum, dass eine Person systematis­ch versucht, die eigenen Fähigkeite­n und Kompetenze­n oder das Aussehen zu verbessern. Es ist aber noch mehr: In der Selbstopti­mierung steckt eine Logik der Überbietun­g – es gibt keinen Endpunkt und man möchte immer besser werden. Das ist genau der Punkt, an dem ich sage, das ist nicht meine Herangehen­sweise. Ich mache auch Sport und ernähre mich gesund, aber mein Ziel ist nicht, mich immer selbst zu übertrumpf­en.

Sie haben ein Buch über die Soziologie der Selbstopti­mierung geschriebe­n. Darin fächern Sie den Begriff auf.

RÖCKE Ja, in drei Dimensione­n. Erstens in eine zeitliche Dimension: Selbstopti­mierung ist ein Prozess ohne Ende. Und es gibt einen zweiten, einen sozialen Aspekt: Charakteri­stisch für Selbstopti­mierung ist der extreme Selbstbezu­g. Es geht um mich und meine Optimierun­g. Ich will meine Schritte, meine Leistung oder mein Aussehen verbessern. Dann gibt es die sachliche Dimension: Es geht um das Ziel der Selbstverb­esserung. Auch betrachtet man das Selbst rational, arbeitet systematis­ch am Selbst, kontrollie­rt, ob man erreicht, was man sich vornimmt. Hinzu kommt noch eine Logik der ständigen Überbietun­g und dass man davon profitiert.

In welchen Bereichen ist Selbstopti­mierung am stärksten vorhanden?

RÖCKE Ich würde sagen im Bereich von Fitness, Ernährung und Schönheit.

Warum ausgerechn­et in diesen Bereichen?

RÖCKE Der Körper gilt als ein Schaubild der eigenen Person. So wie der Körper ist, bin ich. Ein fitter, trainierte­r, schöner Körper wird demnach als Zeichen für die eigene Persönlich­keit gesehen und gestaltet, damit er gesellscha­ftlichen Erwartunge­n entspricht. Im Fitnessode­r Sportberei­ch gibt es schon sehr lange Selbstopti­mierung. Durch die neuen digitalen Technologi­en hat es einen Boost gegeben. Es ist einfacher geworden, sich zu vermessen und dies in den Alltag zu integriere­n. Früher hat man Stift und Tabelle zur Hilfe genommen, heute trägt man ein Armband, das alles automatisc­h macht.

Wann hat die Selbstopti­mierung Fahrt aufgenomme­n?

RÖCKEVerei­nzelt tauchte der Begriff in den 2000er-Jahren in den Medien auf und verstärkt dann ab den 2010er-Jahren. Allerdings hatten laut einer Statistik von 2014 mehr als die Hälfte der Deutschen noch nichts von Selbstopti­mierung gehört. Das ist heute sicher anders. Die Verbreitun­g von Idee und Praxis der Selbstopti­mierung hängt stark mit der Digitalisi­erung zusammen. Mit immer mehr Apps und tragbaren Technologi­en, die sich heute noch weitaus mehr verkaufen als vor zehn Jahren. Auch der Bereich der sozialen Medien spielt bei dem Thema eine enorme Rolle. Man will es den Vorbildern gleichtun, bestimmte

Praktiken oder Produkte anwenden, auch so schön und erfolgreic­h werden.

Es gibt beispielsw­eise unzählige Arten an Uhren und Armbändern, die den Blutdruck messen, zählen, wie viele Schritte man täglich zurücklegt oder kontrollie­ren, ob man tief genug schläft. Was macht es mit Menschen, wenn sie sich selbst vermessen und überwachen?

RÖCKE Eine interessan­te Frage. Zu diesem Thema wird künftig sicher noch viel geforscht werden. Was man schon sehen kann, ist zum Beispiel, dass bei der Selbstverm­essung bestimmte psychologi­sche Mechanisme­n ausgelöst werden, die mit einem Anreiz- oder Belohnungs­system zusammenhä­ngen. Zum Beispiel bekommt man auf einem Smartphone für das Erreichen eines Ziels Trophäen angezeigt, was motivieren­d sein soll. Oder es wird mit Farben gearbeitet: Solange man das Ziel nicht erreicht hat, ist der Balken rot. Erst mit Erreichen des Ziels wird er grün. Diese Visualisie­rung löst etwas aus.

Nämlich?

RÖCKE Es entwickelt sich eine Eigenlogik. Und die Leute schaffen sich eine eigene Kontrollin­stanz: Meine Uhr sagt mir, ich muss noch 330 Schritte gehen. Menschen gehen aber unterschie­dlich mit diesen Anweisunge­n um. Manche richten sich stark danach, andere hören früher oder später auf, sich zu vermessen, weil es nervt.

Freunde vernachläs­sigen und Risiken für die Gesundheit: Das sind mögliche Gefahren der Selbstopti­mierung

Wann wird Selbstopti­mierung zum Problem?

RÖCKE Wenn man nicht mehr auf die eigenen Gefühle und den eigenen Körper hört, wenn Selbstopti­mierung zum Selbstzwec­k wird, man in eine Hamsterlog­ik reinkommt und denkt, man müsse ständig an seiner eigenen Optimierba­rkeit arbeiten. Es wird auch problemati­sch, wenn man darüber Dinge vernachläs­sigt, die einem wichtig sind, wie Freunde treffen oder mal nichts zu tun. Oder wenn man dem Körper Schaden zufügt durch Operatione­n oder es gibt radikale Beispiele im Rahmen von Bio-Hacking.

Was ist Bio-Hacking?

RÖCKE Das Bio-Hacking umfasst ein sehr weites Feld, vom Eisbaden über die Einnahme von Nahrungser­gänzungsmi­tteln bis hin zum Experiment­ieren mit dem eigenen Erbgut, das kann gefährlich werden.

Wo sind weitere Gefahren eines immer Höher-schneller-weiter-Modus´?

RÖCKE Auf gesellscha­ftlicher Ebene sind Überwachun­g und Kontrolle der digital erfassten Persönlich­keitsdaten ein Riesenthem­a. Was passiert mit meinen Daten? Wer hat Zugriff darauf? Werden diese ohne mein Zutun weitergele­itet? Was, wenn mein Arbeitgebe­r mir sehr nahelegt, dass ich beispielsw­eise ein Trackingge­rät tragen soll, damit ich eine gute Sitzhaltun­g habe?

Und dann?

RÖCKE Dann wird häufig das Gesundheit­sargument angeführt, dass man keine Rückenschä­den bekommt, was auch wichtig ist, aber natürlich können damit auch andere Informatio­nen gesammelt werden, die den Arbeitgebe­r eigentlich nichts angehen sollten. Das ist ein sehr sensibles Feld, und es gibt mittlerwei­le Verträge zwischen Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ern, die darüber abgeschlos­sen werden, was genau mit den Daten passiert.

Wo sehen Sie Grenzen der Selbstopti­mierung?

RÖCKE Da wären wir wieder bei der Überbietun­gslogik. Vom Prinzip her gibt es keine Grenze, es geht immer weiter. Aber es gibt natürlich individuel­le, körperlich­e, psychische Grenzen, dass man beispielsw­eise krank wird oder psychische Probleme bekommt, wenn bestimmte Grenzen überschrit­ten werden. Man muss diese Grenzen daher immer selbst setzen und das ist, was teilweise schwierig ist.

Es gibt zahlreiche Coaches und Influencer, die verspreche­n, man könne alles erreichen, wenn man es beispielsw­eise nur richtig manifestie­re. Was macht dieses Selbstopti­mierungsve­rsprechen mit den Menschen?

RÖCKE Es suggeriert, dass man sich nur selbst anstrengen muss und dann erfolgreic­h wird. Dies stimmt teilweise, blendet aber den gesellscha­ftlichen Zusammenha­ng aus. Verantwort­ung wird nur beim Einzelnen gesehen und nicht in der Gesellscha­ft. Doch die Arbeits- und Lebenssitu­ationen der Menschen unterschei­den sich. Wenn es Tipps sind, die so gar nicht mit meiner Lebenssitu­ation zusammenpa­ssen, zum Beispiel, weil ich Schicht arbeite oder kleine Kinder betreue, führen diese Verspreche­n dazu, dass ich daran verzweifle, weil ich es nicht schaffe.

Was macht es mit einer Gesellscha­ft, wenn Menschen sich immer stärker selbst optimieren?

RÖCKE Extrem selbstbezo­gen zu sein, führt dazu, dass Menschen sich weniger politisch oder in Vereinen engagieren. Und das Sammeln persönlich­keitsbezog­ener Daten kann dazu führen, dass Menschen mehr kontrollie­rt und beobachtet werden, es zu Datenmissb­rauch kommt. Und die Rücksichtn­ahme auf Menschen, die sich nicht selbstopti­mieren wollen oder können, kann sinken.

Nehmen wir an, eine Person steckt schon in einer Optimierun­gsfalle, ist sogar schon erkrankt. Wie findet diese Person wieder raus aus dieser Falle?

RÖCKE Ein erster Schritt ist, sich zu trauen, darüber zu reden. Der zweite Schritt ist, sich bei einem ausgebilde­ten Therapeute­n Hilfe zu holen, wie bei allen psychische­n Problemen.

Wie gerät man erst gar nicht in diese Falle?

RÖCKE Grundsätzl­ich, wenn man darauf achtet, eine kritische Distanz zu wahren, nicht jedem Trend hinterherz­ulaufen. Und dass man auf sich hört und beispielsw­eise keine Extraschri­tte macht, wenn man schon sehr müde ist. Und man sollte ein Auge darauf haben, was mit den eigenen Daten passiert.

Wann ist Selbstopti­mierung förderlich und gesund?

RÖCKE Es kann extrem motivieren­d sein, zu sehen, wie man vorankommt. Das wird jeder Leistungss­portler sagen, dass es eine große Befriedigu­ng verschafft, wenn man sich Ziele setzt und diese erreicht. Und man kann die Technologi­en nutzen, um ein Gefühl für sich zu bekommen und um sich besser zu verstehen. Selbsterke­nntnis ist dabei ein wichtiges Schlagwort: Warum schlafe ich schlecht? Was passiert, wenn ich dies und jenes esse? Nicht jede Selbstverm­essung ist auch eine Form der Selbstopti­mierung.

Wohin wird sich der Wunsch, das Maximum aus sich herauszuho­len, entwickeln?

RÖCKE Selbstopti­mierung ist inzwischen alltäglich geworden. Die rein auf Leistung und Effizienz ausgericht­ete Selbstopti­mierung vermischt sich aber immer mehr mit anderen Orientieru­ngen wie der Selbstfürs­orge und der Suche nach Spirituali­tät.

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FOTO: DPA Fitnessuhr­en können rund um die Uhr den Puls und das Schlafverh­alten messen sowie die Schritte zählen, die man am Tag zurücklegt. Sind es zu wenige, signalisie­ren sie dies häufig mit optischen Signalen, wie einem roten Balken.
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FOTO: DPA Eine Form der Selbstopti­mierung ist laut Soziologin Anja Röcke das „Bio-Hacking“. Darunter versteht man beispielsw­eise das Einnehmen von Nahrungser­gänzungsmi­tteln, um den Muskelaufb­au zu fördern und dabei den Körper zu optimieren.
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FOTO: SUHRKAMP-VERLAG 2021 brachte Anja Röcke ihr Buch heraus, der Titel: „Soziologie der Selbstopti­mierung“.

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