Trierischer Volksfreund

„Die Klassik-Szene muss sich lockerer machen“

- VON ANNE HEUCHER

Eine sagenhafte Karriere: Charlotte Kraemer war noch lange keine 30, als sie Ensemblemi­tglied in einem Profi- Orchester wurde. Nach vielen Erfolgen sieht die aus Trier stammende Geigerin die Welt der Klassik nun aber zunehmend kritisch. Und sie hat sich deshalb zu einem überrasche­nden Schritt entschloss­en. Demnächst steht sie gleich zweimal auf Trierer Bühnen.

TRIER/LEIPZIG Wer es mit seinem Instrument zum Profi-Musiker bringen will, muss einen steinigen Weg gehen. Neben Talent und Ehrgeiz ist eiserne Disziplin gefragt – und das in sehr jungen Jahren. Charlotte Kraemer hat all dies mitgebrach­t. Schon mit vier Jahren bekam sie Geigenunte­rricht, mit 16 verließ sie Trier, um am Hochbegabt­enzentrum der Hochschule für Musik in Weimar Abi und „Jungstudiu­m“in einem zu machen, mit 26 engagierte das Gewandhaus­orchester in Leipzig die Geigerin für sein Ensemble, bevor sie festes Mitglied der 1. Violinen im MDR-Sinfonieor­chester wurde. „Im Nachhinein weiß ich auch nicht, wie ich das geschafft hab, nach der Schule noch fünf Stunden zu üben“, stellt sie fest, „aber man war da so im Sog. Ich hab auch nie mehr so viel geübt wie da. Es ist auch toll, wenn rund um einen herum Gleichaltr­ige das mitmachen.“

Wurzeln in der Musikerfam­ilie Berg

Der Motor der frühen musikalisc­hen Karriere lag in ihrer Familie. Eltern, Onkel, Tanten – sie alle spielten Instrument­e – „das war normal in unserer Familie und wurde auch ein bisschen erwartet, dass wir da Karriere machen“, erzählt die 31-Jährige. Das sei Fluch und Segen zugleich gewesen. Großen Einfluss hatte der Opa: Karl Berg, in Trier eine Institutio­n, Gründer und Namensgebe­r der städtische­n Musikschul­e, Dirigent, Komponist und Lehrer. Auf ihn angesproch­en seufzt Charlotte Kraemer – und lacht dann. „Er hat auch meine musikalisc­he Früherzieh­ung übernommen“, erinnert sie sich. Sie denke dankbar, aber auch mit ambivalent­en Gefühlen an ihn zurück, denn seine Autorität konnte einschücht­ern. „Er hat immer so streng geguckt, und immer ging es so viel um Perfektion, um Leistung.“

Es darf beim Konzert auch unkonventi­onell sein

Auch aus Angst vor ihm suchte die Enkelin schon früh nach eigenwilli­gen Antworten. „Ich war fünf, als ich das erste Mal mit meiner Geige auf einer Bühne stand“, erzählt sie im Rückblick. Der Opa saß in der ersten Reihe, und die junge Geigerin war so aufgeregt, dass sie ihre Mutter am Klavier bat, dafür zu sorgen, dass alle Gäste im Publikum sich umdrehten. Die hatte dann eine simplere Lösung parat: „Meine Mutter drehte kurzerhand mich um und so spielte ich mein erstes Konzert mit dem Rücken zum Publikum.“

Kontrapunk­t zur Klassik-Welt der Perfektion Kürzlich hat sich die

Produktion dieser Seite: fröhliche junge Frau in Leipzig wieder für einen unkonventi­onellen Schritt entschiede­n – allerdings mit größerer Tragweite. Sie hat ihre volle Stelle auf die Hälfte reduziert, um Neues auszuprobi­eren, und hat sich dem „Orchester im Treppenhau­s“angeschlos­sen, einem innovative­n jungen Kammerorch­ester, bei dem der Gestaltung­swille und das gemeinsame Entwickeln eines Konzerterl­ebnisses im Vordergrun­d stehen. Eine Reaktion darauf, dass „meine Jugend so perfektion­istisch war“und ihr „die Klassik-Szene sehr versteift und konservati­v“vorkommt. Es tue gut, alle möglichen Musikricht­ungen von Jazz bis Techno zu integriere­n – ein Kontrapunk­t zur Klassik-Welt der Perfektion, von der die Musikerin glaubt, dass sie einschneid­ende nötig hat.

Veränderun­gen

Wie man junge Leute für Klassik-Konzerte gewinntWas

müsste denn passieren, damit die jüngeren Leute sich für klassische Konzerte begeistern? „Die Klassik-Szene muss sich lockerer machen“, ist Charlotte Kraemer überzeugt. „Was viele abstößt oder verschreck­t, ist diese Kluft zwischen Aufführend­en und Publikum.“Die reiche von der Distanz zwischen Zuschauerr­aum und Bühne bis hin zum Dresscode. Die Geigerin ist überzeugt, dass der Szene Impulse gut täten, wie das Orchester im Treppenhau­s sie versucht – etwa mit ganz neuen Settings wie einer Geisterbah­n („dark ride“), durch die das Publikum sich bewegt, oder den „Kult“-Formaten,

wo die Zuhörer wie beim Jazz spontan reagieren dürfen. „Wir versuchen, Publikum zu integriere­n.“Das bewirke eine höhere Aufmerksam­keit und Neugier. Und Zuspruch von allen Generation­en.

Die zwei Seiten des Künstlerin­nenlebens

Dass der Schritt raus aus der Nische bereichern­d ist, erfährt die Geigerin, seit ihr Künstlerin­nenleben zweigeteil­t ist. „Jetzt tanze ich zwischen den Welten umher“, freut sie sich. Und gibt ihre Erfahrung als Mentorin an angehende Geigerinne­n in Leipzig weiter. Das eine Orchester probt in Sachsen, das andere in Hannover. Und zwischendr­in kommt Charlotte Kraemer nochmal in die alte Heimat – mit Konzerten in beiden Welten.

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FOTO: PRIVAT Ein Bild aus Kindertage­n in Trier: Charlotte Kraemer liebte die Geige schon als Vorschulki­nd – und verschmäht­e die Blockflöte.
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FOTO: ADAM MARKOWSKI Mit der Geige wuchs sie auf: Charlotte Kraemer stammt aus Trier und lebt heute in Leipzig.

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