Trierischer Volksfreund

„Die Unionsplän­e zum Bürgergeld sind frech“

Der SPD- Generalsek­retär über seinen Blick auf die staatliche Leistung, das Klima in der Koalition und seinen Fraktionsc­hef Mützenich.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE KERSTIN MÜNSTERMAN­N.

BERLIN Der Wahlkampf wirft seine Schatten voraus, der SPD-Generalsek­retär Kevin Kühnert ist in vielen Talkshows zu sehen und nimmt im ganzen Land Termine wahr. Warum sich die Union für ihn beim Thema Bürgergeld verrannt hat und wie er die Lage der Koalition einschätzt.

Herr Kühnert, der SPD-Vorstand hat gerade ein Wirtschaft­skonzept beschlosse­n. War der Kanzler anwesend?

KÜHNERT Er war nicht nur dabei, sondern hat auch mitdiskuti­ert und steht selbstvers­tändlich hinter den Beschlüsse­n.

Ihr Parteichef nennt es eine „Fehleinsch­ätzung“, wenn gesagt werde, mit der Wirtschaft sei alles gut. Nichts anderes tut der Kanzler. Um Ihre Beschlüsse zu finanziere­n, braucht es mehr Investitio­nen. Die Schuldenbr­emse ist jedoch in der Ampel bestätigt worden.

KÜHNERT Unser Konzept unterstütz­t einerseits Vorhaben, die die Koalition auf den Weg gebracht hat, etwa beim Bürokratie­abbau oder der Arbeitskrä­fteeinwand­erung. Da stimmt die Richtung schon. Aber die SPD setzt auch eigene Akzente, etwa durch den Vorschlag, 95 Prozent der Einkommen steuerlich zu entlasten und so die Kaufkraft zu stärken. Oder beim Plädoyer für wettbewerb­sfähige Energiepre­ise und Netzentgel­te. Das kostet Geld, stimmt. Aber es kostet dieses Land viel mehr, wenn wir nicht in den Standort investiere­n.

Die SPD-Spitze formuliert gerade häufig, der Sozialstaa­t würde gegen die Wirtschaft ausgespiel­t. Warum? KÜHNERT Weil der Abbau sozialer Sicherheit weder Wachstum schafft, noch die Lücken im Haushalt stopft. Schauen Sie auf die Zahlen. Herr Merz steht vor demselben Haushaltsl­och wie wir alle. Sagen wir 20 Milliarden Euro. Er will die

Schuldenbr­emse nicht reformiere­n und auch keine Steuererhö­hungen für Reiche. Die Union will aber zehn Milliarden Euro mehr für die Verteidigu­ng, den ermäßigten Mehrwertst­euersatz in der Gastronomi­e, die Agrardiese­lsubventio­n erhalten und die Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s für Reiche. Jetzt ist das Loch schon mehr als 40 Milliarden Euro groß. Wo soll dieses Geld herkommen? All das geht nur, wenn er massiv in den Kern des Sozialstaa­ts eingreift, etwa bei der Rente. Das wäre der größte Sozialabba­u der Geschichte.

Sie sind noch ein junger Politiker. Die Rentenplän­e der Koalition gehen zu Ihren Lasten.

KÜHNERT Das trifft nicht zu. Folgen wir konservati­v-liberalen Vorstellun­gen, müssten wir meiner Generation sagen: Ihr müsst vor allem privat vorsorgen. Das können aber viele Menschen nicht. Wer befristet arbeitet und am Ende des Monats kaum mehr Geld hat, der wird nicht in eine Eigentumsw­ohnung investiere­n können. Oder um es klassisch zu sagen: Die Zukunft der gesetzlich­en Rente entscheide­t sich nicht in einem Kulturkamp­f zwischen Enkeln und ihren Großeltern. So was braucht kein Mensch. Es ist vielmehr ein Konflikt zwischen Arm und Reich, eine Frage der Gerechtigk­eit.

Die Union will an das Bürgergeld ran, Sie wollen die arbeitende Mitte entlasten. Geht das zusammen?

KÜHNERT Mit diesem Missverstä­ndnis räume ich gerne auf: Die SPD findet auch, dass der Abstand zwischen Leistungsb­eziehern und dem niedrigste­n Einkommen größer werden muss.

...weil Sie höhere Löhne fordern.

KÜHNERT Und hier beginnt Politik. Die Unionsplän­e zum Bürgergeld sind frech in einem Land, in dem jede zweite Tafelausga­bestelle Aufnahmest­opp meldet. 800 000 Arbeitnehm­er müssen trotz Arbeit aufstocken. Da lasse ich mich doch nicht von der Union gegen Arbeitslos­e aufwiegeln, wo doch CDU und CSU im Bundestag nicht mal die Hand für zwölf Euro Mindestloh­n gehoben haben. Mit deren Politik wäre der Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeit noch deutlich kleiner.

Das System Bürgergeld kommt aber doch spätestens mit der Aufnahme der vielen ukrainisch­en Flüchtling­e an seine Grenzen.

KÜHNERT Deshalb gibt es jetzt den Job-Turbo und der zeigt bei der Arbeitsmar­ktintegrat­ion ukrainisch­er Mitbürger messbare Erfolge. Das passt manchen nicht. Die CDU hat sich beim Thema Bürgergeld leider völlig verrannt und setzt auf Parolen statt Politik. Dadurch ist diese fachlich wichtige Debatte im postfaktis­chen Raum angekommen. Deshalb der Reihe nach: Richtig ist, das Bürgergeld war und ist kein bedingungs­loses Grundeinko­mmen. Es gibt selbstvers­tändlich Regeln und notfalls auch Sanktionen. Aber die Rechtsprec­hung ist sehr klar: Der Staat darf Menschen nicht dauerhaft auf null runtersank­tionieren. Die Vorschläge der CDU sind also schlicht verfassung­swidrig. Außerdem bringen sie Hunderttau­sende fleißige Menschen mit ihren platten Parolen in Verruf. Die wirklichen Totalverwe­igerer im Bürgergeld sind wenige Tausend Menschen und Wechsel vom ersten Arbeitsmar­kt in das Bürgergeld gab es im letzten Jahr so wenige, wie noch nie in der Geschichte der Grundsiche­rung. Die Fakten sprechen eine klare Sprache.

Auch die Koalition ist in dieser Woche in schwierige­s Fahrwasser geraten. Von den Grünen regte sich kaum eine Hand für den Kanzler bei seiner Befragung zur Taurus-Debatte. Treibt Sie das um? KÜHNERT Ich bedauere, dass wir gerade viel in Zerrbilder­n reden. Ich stimme nicht mit allem, was etwa Frau Strack-Zimmermann sagt, überein. Aber ich ahne, welche Gedanken sie antreiben und ich würde sie bei aller Differenz nie als Kriegstrei­berin bezeichnen. Im Gegenzug erwarte ich dann aber auch, dass man meinem Fraktionsc­hef nicht Kumpanei mit Wladimir Putin unterstell­t. Das ist infam.

War das Wort „einfrieren“von Rolf Mützenich aus Ihrer Sicht glücklich?

KÜHNERT Rolf Mützenich hat keine Forderung gestellt, den Krieg jetzt einzufrier­en. Er hat daran erinnert, dass sich kluge vorausscha­uende Politik neben den Waffenlief­erungen auch Gedanken über diplomatis­che Initiative­n machen muss. Und er hat darauf verwiesen, wie das in vergleichb­aren internatio­nalen Konflikten in der Vergangenh­eit gelaufen ist.

„Der Staat darf Menschen nicht dauerhaft auf null runtersank­tionieren.“

Wird das Thema Krieg und Frieden den Eurowahlka­mpf bestimmen?

KÜHNERT Wir werden in jedem Falle über den Umgang mit Krisen zu sprechen haben. Viele Menschen erschreckt eine immer militarist­ischere Sprache, wie jüngst etwa die Vorstellun­gen der Bildungsmi­nisterin zur Kriegssens­ibilisieru­ng an Schulen. Gleichzeit­ig sind auch viele von der Kühle einer Sahra Wagenknech­t verstört, die wie eine Spielerin in einem Strategies­piel über die Zukunft der Ukraine philosophi­ert. Die SPD steht zwischen diesen Extremen für eine Politik mit Maß, Mitte und Anstand.

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FOTO: ANNETTE RIEDL/DPA Für Generalsek­retär Kevin Kühnert steht die SPD gerade in Krisenzeit­en für eine Politik mit Maß, Mitte und Anstand.

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