Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen durch Zufall das gleiche Aussehen haben, ist äußerst gering. Aber es gibt zum Teil frappierende Ähnlichkeiten, die sich im Spannungsfeld zwischen Spaß und tödlichem Ernst bewegen können.
Ist er's? Oder ist er's nicht? Immer wieder tauchen Gerüchte auf, dass Wladimir Putin einen Doppelgänger besitzt. Oder gleich mehrere? Es gibt Indizien, Gerüchte, Behauptungen. Der Kreml streitet alles ab, natürlich. So etwas zuzugeben, wäre auch völlig sinnfrei. Schließlich sollte im Interesse der russischen Staatsführung ein Double unbedingt für echt befunden werden. Es könnte ja sein, dass jemand dem Original nach Leib und Leben trachtet. Die Täuschung, die den Tod eines Individuums in Kauf nimmt, um die Unverwundbarkeit eines anderen zu belegen, ist ein ziemlich perfides Kalkül. Doch weil dem post-sowjetischen Machthaber so etwas durchaus zuzutrauen wäre und die Liste seiner Feinde inzwischen beträchtliche Ausmaße angenommen hat, klingt das Doppelgänger-Dementi aus Moskau nicht besonders glaubwürdig.
Anlass zu Zweifeln besteht durchaus: Normalerweise meidet Putin den Kontakt zu den Massen. Bei offiziellen Besuchen hält ein absurd langer Verhandlungstisch seine Gegenüber auf Abstand. Es heißt, der KremlHerrscher wolle Infektionen vermeiden, in Zeiten von Corona zumal: Zwei Jahre lang mussten sich Putins Gesprächspartner jeweils einer zehntägigen Quarantäne unterziehen, bevor sie vorgelassen wurden.
Doch vor einem Jahr besuchte der Präsident erstmals seit dem Überfall auf die Ukraine die von seiner Armee besetzten Gebiete. Nicht nur, dass angeblich Putin auf einem der Videos eigenhändig ein Auto durch das nächtliche Mariupol steuert – auf anderen Aufnahmen schüttelt er Hände mit Einwohnern, bewegt sich ungezwungen durch die Straßen inmitten eines Krisengebietes, sitzt direkt neben russischen Offizieren in Cherson.
Bei seiner Reise in die Republik Dagestan im südlichen Teil Russlands küsst Putin später beim Bad in der Menge gar ein Mädchen aufs Haar – die Bilder, die kurz nach dem Abbruch des bewaffneten Aufstands der Wagner-Söldnertruppe unter Jewgeni Prigoschin im Juni 2023 entstanden waren, sollten der Bevölkerung vermutlich Normalität und ungebrochene Führungsstärke demonstrieren.
Einer von drei Doppelgängern Prigoschins ist übrigens kürzlich ums Leben gekommen, wie das unabhängige russische Portal „agentstvonews“Anfang März berichtete. Der Mann, der mit richtigem Namen Ruslan Yunusow geheißen haben soll, diente angeblich freiwillig in der russischen Armee und wurde an der ukrainischen Front getötet. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.
Um den Dingen wenigstens näher auf den Grund zu gehen, hat die „Neue Zürcher Zeitung“vor wenigen Wochen zusammen mit Neurowissenschaftlern an der Uni Lausanne sogenannte Super-Recognizer die umstrittenen Putin-Bilder begutachten lassen. Solche Spezialisten verfügen über die seltene Gabe, sich Gesichter merken und sie auch dann wiedererkennen zu können, wenn sich diese stark verändert haben, zum Beispiel durch Alterung, Krankheit oder Schminke. Oder durch Schönheitsoperationen, denen sich der russische Präsident angeblich in den vergangenen Jahren unterzogen hat. Aber auch das sind letztlich keine gesicherten Beweise, und selbst die Belastbarkeit der Erkenntnisse von Super-Recognizern bleibt unter Wissenschaftlern umstritten.
Dennoch interessant: Bei den Aufnahmen aus Mariupol und Cherson sagt eine klare Mehrheit der insgesamt neun SuperRecognizer: Hier ist nicht der echte Putin zu erkennen. Dasselbe gilt für dessen angeblichen Auftritt in Dagestan vier Monate später: Auch hier sehen die Experten einen Doppelgänger am Werk. Dagegen ist sich das Gremium sicher, dass es sich um den echten Putin handelte, der seine Uhr aus irgendwelchen Gründen im August 2023 einmal versehentlich am rechten Handgelenk suchte, obwohl er sie stets am linken trägt – ein Fauxpas, der weltweit abermals Spekulationen ausgelöst hatte, es könnte sich um einen nicht ganz sattelfesten Doppelgänger handeln.
Derartige Anhaltspunkte können Beweise nicht ersetzen. Und doch unterscheidet sich dieser Versuch einer Annäherung an die Wahrheit von dem, was Schwurbler gerne von sich geben. Etwa, dass Adolf Hitler im Ausland weiterlebte und der Tote in der Reichskanzlei bloß ein Doppelgänger war. Was bleibt, sind Vermutungen. Hat Wladimir Putin schlichtweg Angst? Verbirgt dieser Mann, der sich für einen der mächtigsten Potentaten auf diesem Planeten hält, deshalb seine wahre Identität? Fürchtet er den Kontakt zu wirklichen Menschen? So einer hätte zweifellos den Bezug zur realen Welt verloren.
Der überwiegende Rest dieser Welt hat an Doppelgängern deutlich mehr Spaß. Bundeskanzler Olaf Scholz zum Beispiel. Im Februar dieses Jahres reiste er für einen Kurztrip nach Washington und traf in der US-Hauptstadt bei einem Abendessen auf Chris Coons. Der 60-Jährige ist Senator im Bundesstaat Delaware, Mitglied der Demokratischen Partei und sieht dem 65-jährigen
Sozialdemokraten zum Verwechseln ähnlich. Vergnügt posteten die beiden ein Selfie von sich. „Great to see my Doppelgänger again“, twitterte Scholz. Das deutsche Wort „Doppelgänger“hat übrigens einen Doppelgänger im Englischen: Die Bezeichnung ist identisch.
Scholz und Coons waren einander schon ein Jahr zuvor auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos über den Weg gelaufen, was Coons mit den Worten kommentierte: „It's always great to speak with the one person who`s just as handsome as I am.“(„Es ist immer schön mit der einen Person zu sprechen, die genauso gut aussehend ist wie ich.“)
Im Karneval gibt sich mancher Jeck im Rheinland verkleidet als Prominenter aus. Die Düsseldorfer aber rieben sich auf dem Höhepunkt der diesjährigen Karnevalssession die Augen, als sie vermeintlich Jens Spahn an einer U-Bahn-Haltestelle mitten in der Stadt erblickten. „Masken-Deals“stand auf seinem schwarzen Aktenkoffer, und aus seinen Anzugtaschen quollen Geldscheine. Die waren natürlich ein Fake wie die ganze Figur des früheren Bundesgesundheitsministers. In Wahrheit handelte es sich um Mirco Budde. Der 25-Jährige arbeitet derzeit als Key-Account-Manager in Köln, wohnt in Düsseldorf und wurde schon öfter auf seine verblüffende Ähnlichkeit mit dem 43-jährigen CDU-Politiker angesprochen. Die Karnevalisten waren von dem Auftritt jedenfalls so begeistert, dass Mirco Budde selbst kaum zum Feiern kam: Hunderte Fotos musste er mit wildfremden Leuten machen. Auch der echte Jens Spahn hat Budde jetzt ein gemeinsames Bild versprochen.
Doppelgänger sind ein Phänomen, das seine Faszination aus einem eigentümlichen Widerspruch bezieht: Einerseits wollen Menschen einzigartig sein, individuell und unverwechselbar. Zugleich sehnen sie sich nach Gleichheit, Übereinstimmung, Harmonie. Einem Verwandten „wie aus dem Gesicht geschnitten“zu sein, kann ein Gefühl von Identität schaffen. Wenn es sich dagegen nicht um ein Familienmitglied handelt, grenzt die Ähnlichkeit an Magie. Nicht umsonst spielt das geheimnisvolle Motiv des Doppelgängers auch in Literatur, Musik, Film, Mythologie, Psychologie oder Esoterik eine wichtige Rolle. Zahlreiche Agenturen sind darauf spezialisiert, vermeintliche Doppelgänger von Prominenten für Events zu „verleihen“. Das Ergebnis ist häufig ernüchternd.
In Wahrheit ist die Wahrscheinlichkeit, im Leben einem 1:1 identischen Doppelgänger zu begegnen, verschwindend klein. Eine Studie der Universität im australischen Adelaide kommt zu dem Schluss, dass die Chance der Übereinstimmung von acht Gesichtsmerkmalen (Größe der Ohren, Abstand zwischen den Augen etc.) bei eins zu einer Billion liegt. Das ist eine Zahl mit zwölf Nullen. Selbst eineiige Zwillinge sind bei genauer Betrachtung sehr wohl unterscheidbar.
Allerdings neigt das menschliche Gehirn dazu, Dinge, die wir sehen, mit Dingen zu vergleichen, die wir schon kennen. Ob wir erstaunliche Ähnlichkeiten in Gesichtern feststellen, hängt von individuellen Erinnerungen ab, von persönlichen Empfindungen und Erwartungen. Tatsächlich nicht vorhandene Merkmale werden auf diese Weise im Unterbewusstsein flott hinzugefügt und unterschiedlich aussehende Personen plötzlich als gleich aussehend wahrgenommen. Nur die Illusion eines Doppelgängers ist perfekt.
Die fundamentale Frage nach der Einzigartigkeit hat inzwischen diverse Anbieter von Apps auf den Plan gerufen, deren Algorithmen das Internet nach einem „Zwilling“zum eingescannten Gesicht des jeweiligen Nutzers oder der Nutzerin durchsuchen. Womöglich ist das einer jungen Frau zum Verhängnis geworden, deren Tod im Mittelpunkt eines bizarren Falls steht, der derzeit vor dem Landgericht Ingolstadt verhandelt wird.
Eine 23-Jährige steht unter Verdacht, an der Ermordung einer Doppelgängerin beteiligt gewesen zu sein, um selbst ein neues Leben anfangen zu können. Das Opfer wurde offenbar in den sozialen Netzwerken ausfindig gemacht, in eine Falle gelockt und später erstochen aufgefunden. Selbst die Eltern der Angeklagten glaubten wegen der Ähnlichkeit zunächst, es handele sich bei der Toten um ihre Tochter – bis ein DNATest die schreckliche Wahrheit ans Licht brachte.
Produktion dieser Seite: Ralf Jakobs