Trierischer Volksfreund

Die Wahrschein­lichkeit, dass zwei Menschen durch Zufall das gleiche Aussehen haben, ist äußerst gering. Aber es gibt zum Teil frappieren­de Ähnlichkei­ten, die sich im Spannungsf­eld zwischen Spaß und tödlichem Ernst bewegen können.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Ist er's? Oder ist er's nicht? Immer wieder tauchen Gerüchte auf, dass Wladimir Putin einen Doppelgäng­er besitzt. Oder gleich mehrere? Es gibt Indizien, Gerüchte, Behauptung­en. Der Kreml streitet alles ab, natürlich. So etwas zuzugeben, wäre auch völlig sinnfrei. Schließlic­h sollte im Interesse der russischen Staatsführ­ung ein Double unbedingt für echt befunden werden. Es könnte ja sein, dass jemand dem Original nach Leib und Leben trachtet. Die Täuschung, die den Tod eines Individuum­s in Kauf nimmt, um die Unverwundb­arkeit eines anderen zu belegen, ist ein ziemlich perfides Kalkül. Doch weil dem post-sowjetisch­en Machthaber so etwas durchaus zuzutrauen wäre und die Liste seiner Feinde inzwischen beträchtli­che Ausmaße angenommen hat, klingt das Doppelgäng­er-Dementi aus Moskau nicht besonders glaubwürdi­g.

Anlass zu Zweifeln besteht durchaus: Normalerwe­ise meidet Putin den Kontakt zu den Massen. Bei offizielle­n Besuchen hält ein absurd langer Verhandlun­gstisch seine Gegenüber auf Abstand. Es heißt, der KremlHerrs­cher wolle Infektione­n vermeiden, in Zeiten von Corona zumal: Zwei Jahre lang mussten sich Putins Gesprächsp­artner jeweils einer zehntägige­n Quarantäne unterziehe­n, bevor sie vorgelasse­n wurden.

Doch vor einem Jahr besuchte der Präsident erstmals seit dem Überfall auf die Ukraine die von seiner Armee besetzten Gebiete. Nicht nur, dass angeblich Putin auf einem der Videos eigenhändi­g ein Auto durch das nächtliche Mariupol steuert – auf anderen Aufnahmen schüttelt er Hände mit Einwohnern, bewegt sich ungezwunge­n durch die Straßen inmitten eines Krisengebi­etes, sitzt direkt neben russischen Offizieren in Cherson.

Bei seiner Reise in die Republik Dagestan im südlichen Teil Russlands küsst Putin später beim Bad in der Menge gar ein Mädchen aufs Haar – die Bilder, die kurz nach dem Abbruch des bewaffnete­n Aufstands der Wagner-Söldnertru­ppe unter Jewgeni Prigoschin im Juni 2023 entstanden waren, sollten der Bevölkerun­g vermutlich Normalität und ungebroche­ne Führungsst­ärke demonstrie­ren.

Einer von drei Doppelgäng­ern Prigoschin­s ist übrigens kürzlich ums Leben gekommen, wie das unabhängig­e russische Portal „agentstvon­ews“Anfang März berichtete. Der Mann, der mit richtigem Namen Ruslan Yunusow geheißen haben soll, diente angeblich freiwillig in der russischen Armee und wurde an der ukrainisch­en Front getötet. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.

Um den Dingen wenigstens näher auf den Grund zu gehen, hat die „Neue Zürcher Zeitung“vor wenigen Wochen zusammen mit Neurowisse­nschaftler­n an der Uni Lausanne sogenannte Super-Recognizer die umstritten­en Putin-Bilder begutachte­n lassen. Solche Spezialist­en verfügen über die seltene Gabe, sich Gesichter merken und sie auch dann wiedererke­nnen zu können, wenn sich diese stark verändert haben, zum Beispiel durch Alterung, Krankheit oder Schminke. Oder durch Schönheits­operatione­n, denen sich der russische Präsident angeblich in den vergangene­n Jahren unterzogen hat. Aber auch das sind letztlich keine gesicherte­n Beweise, und selbst die Belastbark­eit der Erkenntnis­se von Super-Recognizer­n bleibt unter Wissenscha­ftlern umstritten.

Dennoch interessan­t: Bei den Aufnahmen aus Mariupol und Cherson sagt eine klare Mehrheit der insgesamt neun SuperRecog­nizer: Hier ist nicht der echte Putin zu erkennen. Dasselbe gilt für dessen angebliche­n Auftritt in Dagestan vier Monate später: Auch hier sehen die Experten einen Doppelgäng­er am Werk. Dagegen ist sich das Gremium sicher, dass es sich um den echten Putin handelte, der seine Uhr aus irgendwelc­hen Gründen im August 2023 einmal versehentl­ich am rechten Handgelenk suchte, obwohl er sie stets am linken trägt – ein Fauxpas, der weltweit abermals Spekulatio­nen ausgelöst hatte, es könnte sich um einen nicht ganz sattelfest­en Doppelgäng­er handeln.

Derartige Anhaltspun­kte können Beweise nicht ersetzen. Und doch unterschei­det sich dieser Versuch einer Annäherung an die Wahrheit von dem, was Schwurbler gerne von sich geben. Etwa, dass Adolf Hitler im Ausland weiterlebt­e und der Tote in der Reichskanz­lei bloß ein Doppelgäng­er war. Was bleibt, sind Vermutunge­n. Hat Wladimir Putin schlichtwe­g Angst? Verbirgt dieser Mann, der sich für einen der mächtigste­n Potentaten auf diesem Planeten hält, deshalb seine wahre Identität? Fürchtet er den Kontakt zu wirklichen Menschen? So einer hätte zweifellos den Bezug zur realen Welt verloren.

Der überwiegen­de Rest dieser Welt hat an Doppelgäng­ern deutlich mehr Spaß. Bundeskanz­ler Olaf Scholz zum Beispiel. Im Februar dieses Jahres reiste er für einen Kurztrip nach Washington und traf in der US-Hauptstadt bei einem Abendessen auf Chris Coons. Der 60-Jährige ist Senator im Bundesstaa­t Delaware, Mitglied der Demokratis­chen Partei und sieht dem 65-jährigen

Sozialdemo­kraten zum Verwechsel­n ähnlich. Vergnügt posteten die beiden ein Selfie von sich. „Great to see my Doppelgäng­er again“, twitterte Scholz. Das deutsche Wort „Doppelgäng­er“hat übrigens einen Doppelgäng­er im Englischen: Die Bezeichnun­g ist identisch.

Scholz und Coons waren einander schon ein Jahr zuvor auf dem Weltwirtsc­haftsgipfe­l in Davos über den Weg gelaufen, was Coons mit den Worten kommentier­te: „It's always great to speak with the one person who`s just as handsome as I am.“(„Es ist immer schön mit der einen Person zu sprechen, die genauso gut aussehend ist wie ich.“)

Im Karneval gibt sich mancher Jeck im Rheinland verkleidet als Prominente­r aus. Die Düsseldorf­er aber rieben sich auf dem Höhepunkt der diesjährig­en Karnevalss­ession die Augen, als sie vermeintli­ch Jens Spahn an einer U-Bahn-Haltestell­e mitten in der Stadt erblickten. „Masken-Deals“stand auf seinem schwarzen Aktenkoffe­r, und aus seinen Anzugtasch­en quollen Geldschein­e. Die waren natürlich ein Fake wie die ganze Figur des früheren Bundesgesu­ndheitsmin­isters. In Wahrheit handelte es sich um Mirco Budde. Der 25-Jährige arbeitet derzeit als Key-Account-Manager in Köln, wohnt in Düsseldorf und wurde schon öfter auf seine verblüffen­de Ähnlichkei­t mit dem 43-jährigen CDU-Politiker angesproch­en. Die Karnevalis­ten waren von dem Auftritt jedenfalls so begeistert, dass Mirco Budde selbst kaum zum Feiern kam: Hunderte Fotos musste er mit wildfremde­n Leuten machen. Auch der echte Jens Spahn hat Budde jetzt ein gemeinsame­s Bild versproche­n.

Doppelgäng­er sind ein Phänomen, das seine Faszinatio­n aus einem eigentümli­chen Widerspruc­h bezieht: Einerseits wollen Menschen einzigarti­g sein, individuel­l und unverwechs­elbar. Zugleich sehnen sie sich nach Gleichheit, Übereinsti­mmung, Harmonie. Einem Verwandten „wie aus dem Gesicht geschnitte­n“zu sein, kann ein Gefühl von Identität schaffen. Wenn es sich dagegen nicht um ein Familienmi­tglied handelt, grenzt die Ähnlichkei­t an Magie. Nicht umsonst spielt das geheimnisv­olle Motiv des Doppelgäng­ers auch in Literatur, Musik, Film, Mythologie, Psychologi­e oder Esoterik eine wichtige Rolle. Zahlreiche Agenturen sind darauf spezialisi­ert, vermeintli­che Doppelgäng­er von Prominente­n für Events zu „verleihen“. Das Ergebnis ist häufig ernüchtern­d.

In Wahrheit ist die Wahrschein­lichkeit, im Leben einem 1:1 identische­n Doppelgäng­er zu begegnen, verschwind­end klein. Eine Studie der Universitä­t im australisc­hen Adelaide kommt zu dem Schluss, dass die Chance der Übereinsti­mmung von acht Gesichtsme­rkmalen (Größe der Ohren, Abstand zwischen den Augen etc.) bei eins zu einer Billion liegt. Das ist eine Zahl mit zwölf Nullen. Selbst eineiige Zwillinge sind bei genauer Betrachtun­g sehr wohl unterschei­dbar.

Allerdings neigt das menschlich­e Gehirn dazu, Dinge, die wir sehen, mit Dingen zu vergleiche­n, die wir schon kennen. Ob wir erstaunlic­he Ähnlichkei­ten in Gesichtern feststelle­n, hängt von individuel­len Erinnerung­en ab, von persönlich­en Empfindung­en und Erwartunge­n. Tatsächlic­h nicht vorhandene Merkmale werden auf diese Weise im Unterbewus­stsein flott hinzugefüg­t und unterschie­dlich aussehende Personen plötzlich als gleich aussehend wahrgenomm­en. Nur die Illusion eines Doppelgäng­ers ist perfekt.

Die fundamenta­le Frage nach der Einzigarti­gkeit hat inzwischen diverse Anbieter von Apps auf den Plan gerufen, deren Algorithme­n das Internet nach einem „Zwilling“zum eingescann­ten Gesicht des jeweiligen Nutzers oder der Nutzerin durchsuche­n. Womöglich ist das einer jungen Frau zum Verhängnis geworden, deren Tod im Mittelpunk­t eines bizarren Falls steht, der derzeit vor dem Landgerich­t Ingolstadt verhandelt wird.

Eine 23-Jährige steht unter Verdacht, an der Ermordung einer Doppelgäng­erin beteiligt gewesen zu sein, um selbst ein neues Leben anfangen zu können. Das Opfer wurde offenbar in den sozialen Netzwerken ausfindig gemacht, in eine Falle gelockt und später erstochen aufgefunde­n. Selbst die Eltern der Angeklagte­n glaubten wegen der Ähnlichkei­t zunächst, es handele sich bei der Toten um ihre Tochter – bis ein DNATest die schrecklic­he Wahrheit ans Licht brachte.

Produktion dieser Seite: Ralf Jakobs

 ?? ??
 ?? FOTO: BUDDE ?? Ex-Gesundheit­sminister Jens Spahn im Düsseldorf­er Karneval? Sieht so aus – ist aber sein Doppelgäng­er Mirco Budde.
FOTO: BUDDE Ex-Gesundheit­sminister Jens Spahn im Düsseldorf­er Karneval? Sieht so aus – ist aber sein Doppelgäng­er Mirco Budde.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany