Trierischer Volksfreund

Bilder aus einer unvollende­ten Welt

Das Centre Pompidou in Metz würdigt André Masson, der im Schatten der großen Surrealist­en Magritte, Dali und Miró stand. Zu Unrecht — wie man nun sehen kann.

- VON SILVIA BUSS www.centreprom­pidou-metz.fr

Wenn vom Surrealism­us die Rede ist, denkt man sofort an Künstler wie René Magritte, Salvador Dalí oder Joan Miró. Weniger populär ist André Masson (1896-1987), dabei gehört er zu den Mitbegründ­ern und bedeutends­ten Vertretern dieser Bewegung rund um Surrealist­en-Papst André Breton. Anlässlich des 100. Jahrestags des ersten Manifests des Surrealism­us widmet das Centre Pompidou Metz dem Schwergewi­cht Masson nun unter dem Titel „Es gibt keine vollendete Welt“eine ausführlic­he Retrospekt­ive.

Kuratiert hat die Schau Chiara Parisi höchstpers­önlich, die Direktorin des Metzer Centre Pompidou. Warum sie auf Masson so große Stücke hält? Unter anderem weil die Kunst ihm drei große Innovation­en des 20. Jahrhunder­ts zu verdanken habe, wie sie erklärt. Zum Ersten sei das die Methode des „automatisc­hen Zeichnens“, das unter Ausschaltu­ng des Verstandes aus dem Unbewusste­n und seinen Impulsen schöpft und die „écriture automatiqu­e“vorwegnimm­t.

Zum Zweiten die Verwendung von Sand in der Malerei und zum Dritten

Massons Prototyp des „Action-Paintings“durch das freie gestische Malen und das „Dripping“( Tropfen von Farbe), womit der Franzose in der Zeit seines Exils in den USA die amerikanis­chen Expression­isten, allen voran Jackson Pollock, beeindruck­t und beeinfluss­t hat.

Im Vergleich zur modern, bewusst knallig inszeniert­en Ausstellun­g über Jacques Lacan und die Künstler im Stockwerk darunter ist die MassonScha­u eher klassisch und puristisch eingericht­et. Chronologi­sch und thematisch sortiert, sind in zwölf ineinander übergehend­en Kabinetten rund 100 Gemälde und 120 Zeichnunge­n

Massons luftig in Reihe an graue Wänden gehängt. Doch das ist auch gut so, denn die Werke sind so gehaltvoll, prall, dicht und emotional bewegt gestaltet, dass sie einen ruhigen Hintergrun­d und Abstand brauchen, um zu wirken.

Zusammen mit Illustrati­onen und Mini-Skulpturen kommt die Schau so auf über 250 Werke, darunter viele Leihgaben aus namhaften Museen. Womit auch leicht eine weitere Frage beantworte­t werden kann: Ja, es lohnt sich, Masson zu besichtige­n, nicht nur aus kunsthisto­rischem Interesse. Denn er ist jemand, der die großen Verwerfung­en des 20. Jahrhunder­ts miterlebt und Themen künstleris­ch verarbeite­t hat, die heute wieder aktuell sind: etwa Krieg, Faschismus und Gewalt – auch die gegen Tiere.

Und Masson war zwar einerseits ein Intellektu­eller, im ständigen Austausch mit den Größen seiner Zeit wie etwa Lacan (zugleich sein Schwager), interessie­rt an Philosophi­e, Literatur, Mythologie und Psychoanal­yse und äußerst belesen, wie die nachgebaut­e Privatbibl­iothek veranschau­lichen soll.

Gleichzeit­ig – davon zeugen hier Interviewf­ilme und die Textschild­chen an den Werken – war Masson auch wie kaum jemand willig, seine Kunst wortreich zu erklären. Dabei sind seine überwiegen­d figurative­n Bilder auch so recht zugänglich – und vor allem von einer großen Vitalität.

Obgleich Masson schon früh seinen eigenen „Kosmos“mit immer wiederkehr­enden symbolgela­denen Elementen wie Messern, Seilen oder auch den vier Elementen absteckt, so erweist er sich als unglaublic­h offen für Neues und experiment­ierfreudig. Ob Kubismus, Dalí, Picasso oder Paul Klee – Masson nahm Einflüsse wiedererke­nnbar auf und konnte sie doch stets verwandeln.

Trotz einiger Aneinander­reihungen von Ähnlichem offenbart die Ausstellun­g daher insgesamt eine erstaunlic­he motivische und stilistisc­he Vielfalt. Sie beginnt mit Massons ersten automatisc­hen Zeichnunge­n aus dem Jahr 1923, sie zeigen „verflochte­ne nackte (Frauen-) Körper“(Masson), sein Dauerthema, für ihn im Sinne Freuds ein Ausdruck des „Lebenstrie­bs“, des Eros. Hier sind sie Gemälden mit blassen, fast wie versteiner­t wirkenden Bäume mit Gräbern zugeordnet.

Im Ersten Weltkrieg war Masson dem Tod nahegekomm­en. Als Kriegsfrei­williger wurde er an der Front von einer Granate schwer verwundet, ein Trauma, das sich noch viele Jahre später in seinen Darstellun­gen von Menschenkö­rpern wiederfind­et: Sie sind löchrig, scheinen sich aufzulösen oder in Pflanzlich­es zu verwandeln, haben sichtbare Blutbahnen und anstelle des Unterleibs geöffnete Granatäpfe­l wie klaffende Wunden. Oder sind beim Kenner griechisch­er Mythen Minotaurus und Labyrinth in einem. Zugleich aber können sie, wie das Liebespaar in „La Métamorpho­se des amants“von 1938 etwas Orgiastisc­hes ausstrahle­n.

Humor, auch sehr schwarzer, war Masson nicht fremd. In Spanien werden seine farbenfroh­en „Ouvriers andalous“(1936) mit Spitzhacke unter sengender Sonne zu Gerippen, General Franco mit Spießgesel­len beim Tee in einer feingliedr­igen Karikatur in Tusche von 1938 zu dürren lächerlich­en Missgestal­ten mit Orden.

In seinen Stierkampf­bildern malt er einerseits die gewalttäti­ge, abschrecke­nde Raserei als eine Allegorie auf die Gewalt der spanischen Politik, dann wieder malt er die Toreros und Tiere als bunte Insekten im heiter-eleganten Tanz.

Mit seiner jüdischen Frau und anderen Surrealist­en gelingt Masson 1941 die Ausreise per Schiff von Marseille via Martinique in die USA, von wo er 1945 nach Frankreich zurückkehr­t. Die üppige Vegetation der Antillen, amerikanis­che Landschaft und chinesisch­e Kalligraph­ie – alles, was ihm begegnet, versteht dieser Künstler für sich fruchtbar zu nutzen. Um ihn in Metz kennenzule­rnen, sollte man Zeit mitbringen.

Bis 2. September, geöffnet täglich von 10 bis 18 Uhr – außer dienstags.

 ?? FOTO: SILVIA BUSS ?? Ein Blick in die Ausstellun­g: Dünn wie Gerippe und zugleich doch in fröhlichen Farben stellt Masson die Arbeiter dar, die im Freien unter der sengenden Hitze Spaniens schuften müssen.
FOTO: SILVIA BUSS Ein Blick in die Ausstellun­g: Dünn wie Gerippe und zugleich doch in fröhlichen Farben stellt Masson die Arbeiter dar, die im Freien unter der sengenden Hitze Spaniens schuften müssen.

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