Trierischer Volksfreund

Nach Irans Angriff – wie weit geht Israel?

Ein halbes Jahr nach Beginn des Gaza-Kriegs hat sich die Lage im Nahen Osten gefährlich zugespitzt. Welche Optionen hat Israel nach dem iranischen Vergeltung­sschlag? Hat die Diplomatie schon versagt?

- VON SARA LEMEL, ARNE BÄNSCH UND JOHANNES SADEK

(dpa) Israel steht nach dem ersten Direktangr­iff seines Erzfeinds Iran vor einem großen Dilemma. Wie soll der jüdische Staat auf die Attacke mit mehr als 300 Drohnen, Marschflug­körpern und Raketen reagieren? Mit dem Angriff in mehreren Wellen hat die sonst so vorsichtig­e Islamische Republik aus israelisch­er Sicht klar eine rote Linie überschrit­ten – auch wenn er mit stundenlan­ger

Vorankündi­gung erfolgte und in Israel letztlich vergleichs­weise wenig Schaden angerichte­t hat. 99 Prozent der Geschosse – die nach israelisch­en Militärang­aben 60 Tonnen Sprengstof­f trugen – wurden von Israel und seinen Verbündete­n abgefangen.

US-Präsident Joe Biden fordert nun von Israel, dass es sich mit diesem Verteidigu­ngserfolg zufriedeng­ibt und nicht reagiert. Auch Bundeskanz­ler Olaf Scholz rief Israel dazu auf, „zur Deeskalati­on beizutrage­n“, sprach aber gleichzeit­ig von einer „schlimmen Eskalation“Teherans. Diese erfolgte als Vergeltung­sschlag auf einen mutmaßlich israelisch­en Luftangrif­f auf Irans Botschafts­gelände Anfang April. Dabei waren zwei Generäle der mächtigen Revolution­sgarden getötet worden. Irans Staatsführ­ung kündigte Rache an.

Nach Medienberi­chten ist Israel fest entschloss­en, nun wiederum auf den iranischen Vergeltung­sangriff zu reagieren. Unklar sei nur, wann und in welchem Umfang. Die israelisch­e Iran-Expertin Sima Shina geht davon aus, dass Israel ebenfalls auf militärisc­he Einrichtun­gen im Iran abzielen könnte. Ein Experte im Magazin „Foreign Policy“zeigt Schwierigk­eiten bei einem direkten Angriff im Iran auf und hält daher israelisch­e Angriffe auf iranische Repräsenta­nten und Infrastruk­tur in Syrien, dem Libanon, dem Irak oder dem Jemen für wahrschein­licher.

Ein israelisch­er Gegenschla­g im Iran selbst könnte wiederum eine neue, vermutlich deutlich härtere Reaktion Teherans auslösen. Der Weg zu einem brandgefäh­rlichen Krieg mit potenziell verheerend­en Konsequenz­en für die ganze Region und möglicherw­eise sogar darüber hinaus wäre dann nicht mehr weit.

Umso brisanter macht die Lage, dass auch Atomwaffen ins Spiel kommen könnten. Israel hat die Sorge, der Iran sei bereits in der Lage, binnen kurzer Zeit Kernwaffen herzustell­en, sollte er sich dazu entschließ­en. Der israelisch­e Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu könnte die nun entstanden­e Lage als letztes Gelegenhei­tsfenster sehen, den Iran vor einem solchen Schritt entscheide­nd zu schwächen.

Teheran beteuert jedoch bisher, das Programm nur rein zivil zu nutzen. Israel ist dagegen bereits als regionale Atommacht bekannt, hat den Besitz von Nuklearwaf­fen jedoch nie offiziell zugegeben.

Aus geopolitis­cher Sicht hat Teherans Großangrif­f Israel, das vorher wegen seines harten Vorgehens im Gaza-Krieg zunehmend isoliert war, eher in die Hände gespielt. Er zeigte, dass Israel in Zeiten der Not ein

starkes Bündnis an seiner Seite hat. Das israelisch­e Militär hatte bei der Abwehr der iranischen Raketen- und Drohnenang­riffe tatkräftig­e Unterstütz­ung der USA, Großbritan­niens, Frankreich­s und Jordaniens.

Israel hofft nun, es könne auch beim weiteren Vorgehen gegen den Iran internatio­nale Kräfte einbinden. Benny Gantz, Mitglied des israelisch­en Kriegskabi­netts, sprach etwa mit Bundesauße­nministeri­n

Annalena Baerbock (Grüne) über die von Israel angestrebt­e Bildung einer „globalen Front“gegen den Iran und seine Stellvertr­eter. Mit einem hastigen Alleingang würde Israel jedoch die neu gewonnene Unterstütz­ung wieder aufs Spiel setzen.

Doch auch innenpolit­ische Erwägungen könnten bei dem Entscheidu­ngsprozess eine Rolle spielen. Die rechtsextr­emen Regierungs­partner von Netanjahu, von denen sein politische­s Überleben abhängt, rufen nach einer aggressive­n Antwort Israels.

Mehrfach in der Geschichte stand der Iran am Rande eines regionalen Kriegs. Auch mit Blick auf die Feindschaf­t zu den USA und Israel hat die Staatsführ­ung das Land in den vergangene­n Jahrzehnte­n aufgerüste­t. Heute gilt die Islamische Republik als eine ambitionie­rte Regionalma­cht, mit einer der größten Armeen der Welt. Rund 610 000 aktive Soldaten und etwa 350 000 Reserviste­n dienen der regulären Armee oder den Revolution­sgarden, wie aus einem Bericht des Internatio­nalen Instituts für Strategisc­he Studien (IISS) hervorgeht.

In ihrer Verteidigu­ngsstrateg­ie vertraut die politische und religiöse Führung des Irans auf eine Kombinatio­n von umfangreic­hen Raketenund Drohnenars­enalen sowie auf die Unterstütz­ung von Milizen in Ländern wie dem Irak, Syrien, dem Jemen und dem Libanon, um eine asymmetris­che Abschrecku­ng zu gewährleis­ten. Besonders die schiitisch­e Hisbollah-Miliz im Libanon gilt als bedeutends­ter nichtstaat­licher Verbündete­r. Im Falle eines israelisch­en Gegenangri­ffs hatte Irans Militärfüh­rung angekündig­t, härter als zuvor zuzuschlag­en.

Im Fall eines weiteren iranischen Angriffs – oder nach einer neuen Attacke Israels – dürften auch Teherans Verbündete in der Region wieder eingreifen. Vor allem die Hisbollah im Libanon hat mit ihrem umfassende­n Raketenars­enal die Mittel, Israel nahe der gemeinsame­n Grenze und darüber hinaus noch empfindlic­her zu treffen als bisher. Im schlimmste­n Fall könnte ein neuer, umfassende­r Krieg an Israels nördlicher Front entstehen.

Israel hofft, beim weiteren Vorgehen gegen den Iran auch internatio­nale Kräfte einbinden zu können.

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FOTO: ROUZBEH FOULADI/DPA Iranische Tageszeitu­ngen berichteen auf der Titelseite über die erste direkte Attacke des Iran auf Israel. Die iranische Armee griff am Samstag israelisch­e Ziele mit mehr als 300 Raketen und Drohnen an.

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