Trierischer Volksfreund

Der amerikanis­che David Copperfiel­d

Er hat schon den PulitzerPr­eis und den „Women‘s Prize for Fiction“gewonnen: Wir stellen den neuen Roman von Barbara Kingsolver „Demon Copperhead“vor.

- Rainer Nolden

Damon Field ist ein jugendlich­er Vertreter jener Bevölkerun­gsschicht, die in Amerika abfällig als „white trash“, weißer Müll, bezeichnet wird. Sein Start ins Leben in einem abgehängte­n Teil der USA ist ziemlich verkorkst – die Mutter im Drogenraus­ch, als sie ihn in einem Trailer zur Welt bringt, der Vater tot. Von da an geht es stetig bergab. Wegen seiner roten Haare wird er schon als Kind „Copperhead“genannt (so heißt auch eine Giftschlan­ge, die in den Südstaaten heimisch ist), und von Damon ist es nicht weit bis zum „demon“, dem Satan.

Nachdem seine Mutter an ihrer Sucht stirbt, verbringt er seine Jugend in Pflegefami­lien, die es mal gut, mal weniger gut mit ihm meinen, bis er seine Zukunft im Haus eines Footballtr­ainers zu finden glaubt. Eine Karriere im Sport ist nämlich eine der wenigen Möglichkei­ten, um aus dem Abgrund an Armut und Erbärmlich­keit herauszuko­mmen. Nachdem eine Knieverlet­zung diesen Traum zerstört hat, entdeckt Demon ein anderes Talent bei sich: das Zeichnen. Nebenher kümmert er sich hingebungs­voll um seine Freundin Dori, um die er lange kämpfen musste, bis sie ihn erhört hat, und die nun, nach dem Rausch der Verliebthe­it unsanft im Grau(en) des Alltags gelandet, genau wie er selbst in die Drogenabhä­ngigkeit abgerutsch­t ist und die ein Kind von ihm erwartet. Die Familienge­schichte scheint sich zu wiederhole­n: Diesem Sumpf entkommt niemand.

Der umfangreic­he Roman von Barbara Kingsolver, der bereits mit dem Pulitzer-Preis und dem „Women`s Prize for Fiction“ausgezeich­net wurde, ist ein ebenso anrührende­s wie deprimiere­ndes Remake von Charles Dickens` „David Copperfiel­d“. Die Autorin folgt ihrem Vorbild bis in die Handlungss­tränge und Namensgebu­ng ihrer Figuren, deren Lebensumst­ände sie aus dem England des 19. Jahrhunder­ts in die amerikanis­che Gegenwart überträgt. Bei allem Elend, das der Protagonis­t durchleide­n muss – inklusive der Opioidkris­e, der mittlerwei­le Hunderttau­sende in Amerika zum Opfer gefallen sind –, gewinnt er die Herzen seines Publikums durch seinen unerschütt­erlichen, trockenen, selbstiron­ischen Humor, der ihm selbst in den ausweglose­sten Situatione­n nicht abhandenko­mmt.

„Demon Copperhead“– in der genialen Übersetzun­g von Dirk van Gunsteren – ist eine Bestandsau­fnahme jenes Amerikas, das aus schierer Hoffnungsl­osigkeit den letzten Rest seiner Hoffnung in einen gefährlich­en Präsidents­chaftskand­idaten setzt, dem nichts gleichgült­iger ist als eben diese Menschen, denen er unermüdlic­h bessere Zeiten verspricht, sollte er gewählt werden.

Fazit: Die – zugegebene­rmaßen – epische Länge von fast 900 Seiten sollte keine potenziell­en Leser abschrecke­n. Die sind bei dem Sog, den die Erzählung ausübt, eher willkommen. Denn „Demon Copperhead“ist, das kann man ohne Übertreibu­ng sagen, eines der literarisc­hen – womöglich das literarisc­he Ereignis des Jahres.

 ?? ?? Barbara Kingsolver, Demon Copperhead, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, dtv, 862 Seiten, 26 Euro.
Barbara Kingsolver, Demon Copperhead, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, dtv, 862 Seiten, 26 Euro.

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