Du kriegst die Motten!
Vor 125 Jahren wurde der Schriftsteller Erich Kästner geboren. Viele seiner Bücher spielen in Krisenzeiten. Was wir im Umgang mit Kindern, mit Sprache und mit dem Leben heute aus seinen Büchern lernen können.
So eine Gastprofessur eines 61-jährigen Seniors ist an sich nichts Besonderes. Es sei denn, beim „Herrn Professor“handelt es sich um Andreas Joachim Wolfgang Konrad Frege, auch bekannt als Campino und Sänger der Toten Hosen. Genau so kam es vor wenigen Tagen an der HeinrichHeine-Universität in Campinos Heimatstadt Düsseldorf. Und in seiner Vorlesung mit dem Titel „Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik“erwähnte der Musiker einen Namen immer wieder: Erich Kästner, der für ihn stets Lieblingsdichter und Inspirationsquelle gewesen sei.
Kästner als Spiritus Rector des Punkrock? „Du kriegst die Motten!“, würde dazu vielleicht Pony Hütchen sagen, die kecke Cousine aus „Emil und die Detektive“. Doch die Toten Hosen gab es in der Schaffensphase Erich Kästners, der vor 125 Jahren in Dresden geboren wurde, ja noch gar nicht. Ebenso wenig wie Instagram, Whatsapp oder Tiktok. Wenigstens ein Walkie-Talkie hätte Emil Tischbein und seinen Freunden in dem 1929 erschienenen Verkaufsschlager bei der Jagd nach dem diebischen Herrn Grundeis geholfen. Schließlich machte Kästner als Vertreter der technikaffinen „Neuen Sachlichkeit“mit ihrem Wirklichkeitsbezug begeistert Gebrauch von modernen Geräten und Begriffen.
Und das nicht nur im „Emil“, wo der Titelheld per D-Zug nach Berlin reist und die Hauptstadt in ihrer ganzen Modernität erlebt, mit Rohrpost und Hochhäusern. Und wenn der
Sohn einer Friseurin seiner
Cousine einen „Uppercut“verpassen oder seiner Mutter „depeschieren“will, so ist das nicht nur meilenweit entfernt von einer vergleichsweise märchenhaften Erzählweise Astrid Lindgrens, in deren Büchern selbst in der zeitgenössischen Hauptstadt Däumlinge und Trolle wohnen: Auch würde die Nutzung moderner Alltagssprache – „Warte nur, du Kanaille“– heutzutage als Popliteratur durchgehen, wobei Wolfgang Herrndorfs „Tschick“oder Felix Lobrechts „Sonne und Beton“es wohl besser nicht auf einen Vergleich mit Kästner ankommen ließen.
Mindestens so gut wie sie kannte er sich aus mit Wohlstands- und anderen Verwahrlosungen im biodeutschen Vor- und Zwischenkriegsmilieu. So spielen Pünktchen und Anton in dem gleichnamigen Buch nicht nächtens „Minecraft“oder „Fortnite“oder lungern antriebslos auf Spielplätzen herum, werden dafür aber beim heimlichen Betteln erwischt. Das Schöne an Kästners Büchern: Sie verbleiben nicht in einer „Bubble“, sondern durchstreifen grundverschiedene Umgebungen.
Und meist haben die Gegensätze von Arm und Reich nicht das letzte Wort – im Gegenteil: Selbstbewusste Kinder, so die Botschaft, können die Erwachsenenwelt ganz schön ins Wackeln bringen, wie „Das fliegende Klassenzimmer“mit seinem Sammelsurium aus Charakteren und Problemstellungen mehrfach beweist. Mit welchem pädagogischen Ansatz man heute reagieren würde, wenn Gymnasiasten und Realschüler ihre Konflikte (noch dazu unter schmunzelnder Duldung der Lehrerschaft) mit ritualisierter Gewalt austrügen, lässt sich leicht ausmalen – mal abgesehen davon, dass man sich in manch schattigem Abschnitt des Schulwegs heute vielleicht etwas Korpsgeist wünschen würde.
Womit wir beim Aktualitätsbezug wären, der in Kästners Werken auch knapp 100 Jahre nach seinen ersten großen Erfolgen ins Auge sticht. In den „Patriotischen Bettgesprächen“etwa spiegelt sich gesellschaftliche Verunsicherung als durchgängiges Motiv in Kästners Büchern: „Wer nicht zur Welt kommt, wird nicht arbeitslos“, heißt es darin, und unversehens kann man an jene kürzlich zu lesende Nachricht denken, derzufolge fast ein Fünftel der jungen Erwachsenen keinen Berufsabschluss hat – freien Ausbildungsplätzen und Fachkräftemangel zum Trotz. Als gäbe die aktuelle „Polykrise“nicht schon genug Anlass zu Vergleichen mit jenen des 20. Jahrhunderts.
Wenngleich der zuweilen etwas dick aufgetragene pädagogische Impetus und die wiederkehrende moralisierende Bürgerlichkeit sicher nicht jedem gefällt: Kästner verschweigt die Härten des Lebens nicht, ohne seine Leser zu entmutigen. Ob nun das Geld für die Heimfahrt zu Weihnachten fehlt („Das fliegende Klassenzimmer“) oder die Themen Scheidung („Das doppelte Lottchen“) oder Armut durch Krankheit („Pünktchen und Anton“) thematisiert werden. Probleme, wie man sie auch heute kennt, wenngleich sich Erich Kästner unverkennbar auf die gängigen Wertvorstellungen seiner Zeit festlegte und die alleinerziehende Mutter Emils mit Bucherzeugnissen des Jahres 2024 wie „Söhne großziehen als Feministin – Ein Streitgespräch mit mir selbst“kaum assoziiert werden kann.
Unterdessen erscheinen die Kinder um das Jahr 1930 erstaunlich selbstständig und verantwortungsbereit, obwohl man spontan mutmaßlich geneigt wäre, die heutige Kindergeneration für reifer zu halten als jene vor knapp 100 Jahren. Wobei: Verleiten die Baustellen am Knoten Köln, die Zugteilung in Hamm und Claus Weselsky heute wirklich dazu, einen Zwölfjährigen allein mit der Bahn nach Berlin zu schicken? Skurril wie ein Kapitel aus „Der 35. Mai“, in dem der Leser mit einem rollschuhfahrenden Pferd namens Negro Kaballo in die Südsee reist, wirkt derweil der aktuelle Streit zwischen der deutschen Umweltministerin und dem Staat Botswana um ein Einfuhrverbot von Jagdtrophäen: Botswanas Präsident Masisi hat Deutschland vor wenigen Tagen 20.000 Elefanten als Geschenk angeboten. Einzige Bedingung: Die Bundesrepublik müsse die Tiere selbst abholen, und sie müssten hier frei herumlaufen dürfen. Wie ungleich ernster ist da doch die Sicherheitslage in Europa, die den Werken Kästners, welcher die letzten Wochen des Ersten Weltkrieg als 18-jähriger Soldat erlebte, eine unheimliche Aktualität gibt. „Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?“, fragte er in seiner Antikriegslyrik. Das Gedicht „Verdun, viele Jahre später“enthält gruselige Strophen wie: „Oben am Denkmal von Douaumont / liegen zwölftausend Tote im Berge. / Und in den Kisten warten achttausend Männer / vergeblich auf passende Särge“. Und in „Jahrgang 1899“(erschienen 1928) hieß es: „Dann holte man uns zum Militär / Bloß so als Kanonenfutter / In der Schule wurden die Bänke leer / Zu Hause weinte die Mutter“. Dass sich zum Verdruss des linken Publikums konservative Tugenden wie Opferbereitschaft, Bescheidenheit, Pflichtbewusstsein, Wahrhaftigkeit und Mutterliebe als roter Faden durch seine Bücher ziehen, hinderte Kästner nicht an einem entschiedenen Pazifismus, der ihn wiederum der politischen Rechten suspekt machte. Zuweilen sprach er auf Ostermärschen, denen man angesichts ihrer jüngsten Auflagen einen Literaten wie Kästner als Redner wünschen könnte.
Später demonstrierte er gegen den Vietnamkrieg, unterstützte Journalisten in der „Spiegel“-Affäre und kritisierte die Adenauer-Regierung und die atomare Aufrüstung. Mancher Kritiker wertete Kästners Engagement gleichwohl als Feigenblatt: Zeit seines Lebens hing ihm der Vorwurf nach, sich im Dritten Reich trotz Schreibverbots mit einigen Tricks und der Hilfe guter Freunde durchlaviert zu haben – sei es nun aus Opportunismus oder Bequemlichkeit. Anders als kürzlich im Falle des Kollegen Otfried Preußler brachte dies die unzähligen Erich-Kästner-Schulen im Lande hinsichtlich ihrer Namensgebung (bislang) nicht in Gefahr. Vielleicht spiegelt sich auch hier ein Aspekt aus Kästners Werken, den er selbst mit den Worten beschrieb: „Das Leben ist nicht nur rosafarben und nicht nur schwarz, sondern bunt.“