EU will Eskalation verhindern
Die Krise im Nahen Osten überschattet das EU- Gipfeltreffen in Brüssel, das an diesem Mittwoch beginnt. Die Gemeinschaft erwägt neue Sanktionen.
Die Agenda deutete auf einen Gipfel für Feinschmecker der europäischen Wirtschaftspolitik hin. Harmonisierung des Insolvenzrechts, Kapitalmarktunion, Finanzaufsicht – die 27 EU-Staatsund Regierungschefs wollten sich ab diesem Mittwoch für zwei Tage mit der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas und der Zukunft des Binnenmarkts beschäftigen. Weil mit keinen Ergebnissen zu rechnen ist, umschrieb ein Brüsseler Diplomat die Bedeutung dieses informellen Treffens mit folgenden Worten: Man sei einmal wieder „auf der Suche nach einem Thema“. Mit den Angriffen des Iran am vergangenen
Wochenende auf Israel hat diese Suche ein Ende. Die Krise in Nahost überschattet alles – und verschiebt die Frage, wie die Union sich für den globalen wirtschaftlichen Wettbewerb rüsten könnte, auf Gipfeltag zwei.
Was aber können die europäischen Partner in der angespannten Situation ausrichten? Die EU will vorneweg verhindern, dass der Konflikt eskaliert. „Wir appellieren an alle Parteien, Zurückhaltung zu üben“, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Er rief die Chefdiplomaten Europas für diesen Dienstagabend zu einer Dringlichkeitssitzung per Videoschalte zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Man wolle „ein Signal der Einigkeit aussenden“, hieß es. Die Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts ist groß – genauso wie die Hoffnung, dass Israel nicht mit Vergeltungsmaßnahmen auf die Attacken aus Teheran reagieren wird. In einem dieser Zeitung vorliegenden Entwurf der Gipfel-Abschlusserklärung fordern auch die Staats- und Regierungschefs „alle Parteien“dazu auf, „äußerste Zurückhaltung zu üben und sich jeglicher Maßnahmen zu enthalten, die die Spannungen in der Region erhöhen könnten“. Zwar wurde zuletzt noch an der genauen Formulierung gefeilt, aber die harmlosen Wortspielereien im Vorfeld zeigten, dass es im Gremium der Mitgliedstaaten „keinen fundamentalen Dissens gibt“, wie ein hochrangiger Beamter sagte. Nur blieb die große Frage offen: Wenn Israels Premier Benjamin Netanjahu schon die Warnungen von US-Präsident Joe Biden zu ignorieren scheint, warum sollten ihn die Bitten aus Brüssel beeindrucken?
Die Verbündeten müssten Jerusalem davon überzeugen, „dass wir nicht mit einer Eskalation, sondern mit einer Isolierung des Irans reagieren müssen“, betonte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Schlussendlich dürfte die EU also das Einzige tun, was sie im Moment tun kann und zu tun bereit ist: Teheran bestrafen. Während zahlreiche Europaabgeordnete verlangen, endlich die iranische Revolutionsgarde auf die EU-Terrorliste zu setzen, diskutieren die Mitgliedstaaten
darüber hinaus über das Verhängen neuer Maßnahmen. So wird erwogen, das Sanktionsregime bei der Drohnentechnologie auszuweiten. Bereits seit vergangenem Jahr ist es verboten, dem Iran wegen dessen Unterstützung für Russland unbemannte Luftfahrzeuge und dafür notwendige Bauteile zu liefern. Im Raum steht nun der Vorschlag, die iranische Raketenproduktion in den Katalog einzubeziehen und die Strafen nicht mehr nur auf iranische Akteure zu begrenzen, die Drohnen an Russland liefern, sondern auch die Produktion für den Nahen Osten zu sanktionieren. Allzu viele Konsequenzen dürften solche Schritte jedoch nicht haben, weil der Iran schon jetzt das Land ist, gegen das weltweit und seit Jahrzehnten die meisten Strafmaßnahmen gelten – das Mullah-Regime hält sich trotzdem stabil an der Macht. Es wäre also vorneweg Symbolpolitik vonseiten der Gemeinschaft. Und ohnehin hat die Islamische Republik in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen, dass sie die Maßnahmen geschickt zu umgehen weiß, um eigene Militärtechnologien voranzutreiben, wie ein Brüsseler Diplomat zugab. Obwohl die Sanktionen ihm zufolge einerseits politisch wären. Andererseits mache man etwa mit Reisebeschränkungen Iran-Vertretern im Libanon oder im Jemen „das Leben schwer”.