Störenfried mit großer Wirkung
Mehr als 60 Prozent der deutschen Erwachsenen klagten im vergangenen Jahr über Rückenschmerzen. Als Ursachen werden dann meist Verspannungen oder die Bandscheiben genannt. Doch auch ein Gelenk, das eigentlich nicht zur Wirbelsäule gehört, kann Ärger berei
Man merkt sie beim Aufstehen, Hinsetzen und Treppensteigen, selbst beim Umdrehen im Bett: Schmerzen im unteren Rücken können das Leben zur Tortur machen. Der Betroffene geht irgendwann völlig entnervt zum Arzt, wo dann ein Röntgenbild, später auch ein MRT gemacht wird, das oft genug nur mit dem Hinweis auf einen „altersgemäßen, aber unauffälligen Bandscheibenverschleiß“kommentiert wird. Der Patient weiß dann immer noch nicht, woher seine Schmerzen kommen, und das trägt bekanntlich nicht gerade zu deren Linderung bei.
In den vergangenen Jahren rückt nun ein bestimmtes Gelenk in den Blickpunkt der Medizin, um die weitverbreiteten Rückenprobleme zu erklären: das Iliosakralgelenk, kurz ISG. Es soll laut Studienlage in 15 bis 25 Prozent der Rückenschmerzfälle involviert sein. Was zunächst einmal erstaunlich klingt. Denn das ISG gehört nicht zur Wirbelsäule. Es liegt zwischen dem in der Mitte gelegenen Kreuzbein und dem linken sowie dem rechten Darmbein. Allerdings darf es nicht so beweglich sein wie andere Gelenke, also etwa im Knie oder in der Hüfte. Denn mit einem ähnlich flexiblen ISG würden wir nicht mehr sitzen, geschweige denn gehen oder laufen können. Also wird es von zahlreichen Bändern und Muskeln gestrafft, sodass es sich gerade einmal im Millimeterbereich bewegen kann. Beispielsweise beim Aufsetzen des Fußes, wo es dem Becken ein kleines Nicken gestattet. Doch man muss es, auch wenn es eher als Stoßdämpfer für den Rumpf fungiert, schon zu den Gelenken zählen.
Dementsprechend kann das ISG auch in ähnlicher Weise erkranken wie andere Gelenke. Es kann blockieren, sich entzünden, verschleißen und sogar eine Arthrose entwickeln. „Manche Betroffene spüren dies dann auch durch konkrete Schmerzen am Gelenk, doch viele können nicht genau angeben, wo eigentlich der Schmerz genau herkommt“, berichtet Robert Pflugmacher, leitender Wirbelsäulenchirurg am Kreiskrankenhaus Mechernich. „Ihnen tut dann einfach die ganze betroffene Seite im unteren Rücken weh“. Oft könnten sie über längere Zeit nur schlecht sitzen und stehen.
Christoph Heyde leitet ebenfalls die Wirbelsäulenchirurgie, und zwar am Uniklinikum Leipzig. Seine ISGPatienten berichten oft, dass ihre Schmerzen ins Gesäß und vor allem in den Oberschenkel ausstrahlen. Das erinnere zwar schon an die Symptome des Bandscheibenvorfalls. „Aber man kann durch klinische Tests schon gut differenzieren, um welche der beiden Erkrankungen es sich handelt“, betont Heyde. So kann der Therapeut im sogenannten Palpationstest das Becken und das Kreuzbein abtasten, um dadurch eine mögliche Fehlstellung der Gelenke zu ermitteln. In Studien hat sich jedoch gezeigt, dass dieses Verfahren oft zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt, wenn es von unterschiedlichen Therapeuten angewandt wird. Mehr Aussagekraft haben Schmerzprovokationstests, bei denen ein direkter Druck auf das ISG ausgeübt oder es gezielt mit bestimmten Bewegungen belastet wird, um zu beobachten, ob und wie der Patient darauf mit Schmerzen reagiert und ob die Funktion des Gelenkes beeinträchtigt ist.
Eine weitere zuverlässige Diagnoseist das Injizieren eines lokalen Anästhetikums wie Lidocain in das betroffene Gelenk. „Reduzieren sich die Beschwerden daraufhin um mindestens 75 Prozent, kann es kaum noch Zweifel am ISG-Syndrom geben“, berichtet Pflugmacher. Problematisch sei allerdings, dass die Patienten natürlich gerne hätten, dass es bei diesem fast schmerzfreien Zustand bleibt. „Doch das Lokalanästhetikum wirkt nur eine kurze Zeit, weil es im Körper recht zügig wieder abgebaut wird“, so die Einschränkung des Wirbelsäulenchirurgen.
Demgegenüber betont sein Kollege Heyde, dass man die schmerzfreie Phase schon für den Einstieg in die aktive Therapie nutzen kann: „Denn solange ein starker Schmerz da ist, kann man mit dem Patienten nicht muskelkräftigend arbeiten.“Wobei eine symptomatische Schmerzlinderung auch durch herkömmliche Schmerzmittel wie Diclofenac oder Metamizol erfolgen kann.
Zu den chirotherapeutischen Maßnahmen gehört dann beispielsweise, dass man mit speziellen Handgriffen einen kurzen, kräftigen Impuls auf das ISG setzt, um die Blockade im Gelenk zu lösen. Diese Methode zeigt erfahrungsgemäß ihre größte Wirksamkeit, wenn die Beschwerden noch nicht lange vorhanden sind. Wobei der Patient sich jedoch von der geläufigen Vorstellung verabschieden sollte, dass der Therapeut ihm das herausgesprungene Gelenk wieder einrenkt. Denn das würde ihm allenfalls unter größter Gewalteinwirkung gelingen.
Demgegenüber setzen die Mobilisationstechniken der Physiotherapie
darauf, das Gelenk in seinem natürlichen Spielraum zu bewegen und die umgebenden Muskeln im Bauch, Rücken und Gesäß zu kräftigen. Doch in dieser Richtung wird sich nur wenig tun, wenn der Patient ein bis zwei Mal pro Woche Sitzungen beim Physiotherapeuten hat. Er muss die erlernten Übungen auch zu Hause weiterführen.
Sollten die konservativen Maßnahmen nicht greifen, kann man zusätzlich Cortison in das betroffene Gelenk injizieren, um dortige Reiz- und Entzündungszustände zu mildern. „Das sollte man allerdings wegen möglicher Nebenwirkungen nicht oft machen“, warnt Heyde.
Wenn dann die Linderung nach wie vor nicht dauerhaft ist, bleibt noch die sogenannte Thermokoagulation. Dabei werden die Nervenfasern, die das Schmerzsignal vom Gelenk ins Gehirn weiterleiten, durch
Elektroden erhitzt und schließlich verödet. „Es handelt sich dabei um ein elegantes und minimalinvasives Verfahren, das man sogar ambulant durchführen kann“, betont Heyde. Denn die Elektroden ließen sich ohne Operation ins Gewebe einbringen. „Wenn dieser Eingriff akkurat durchgeführt wird, gemäß den mittlerweile existierenden Leitlinien zu dieser Methode“, erläutert Heyde, „haben die Patienten bis zu einem halben Jahr oder einem Dreivierteljahr Ruhe – und bei manchen verschwinden die Beschwerden sogar ganz.“
Bei weiterem Fortbestehen der Beschwerden bleibt noch die Möglichkeit eines operativen Eingriffs, durch den das ISG versteift wird. „Doch das machen wir nur ungern“, betont Heyde. Und Pflugmacher schätzt, dass man die Versteifung gerade mal einem Prozent der Patienten empfehlen kann. Denn der Eingriff bedeutet letzten Endes: Das Gelenk wird ausgeschaltet. Was zwar im Hinblick auf das ohnehin schon bewegungsarme ISG nicht so dramatisch ist wie etwa bei einem Finger- und Wirbelgelenk, doch es bedeutet auch hier, dass höhere mechanische Belastungen auf die Umgebung einwirken. „Keiner kann sagen, was nach der Versteifung mit den Nachbargelenken und der Lendenwirbelsäule passiert“, warnt Pflugmacher. „Und keiner kann sagen, was mit dem linken ISG passiert, wenn ich das rechte versteift habe.“