Trierischer Volksfreund

Habecks Bewunderun­g für den ukrainisch­en Pragmatism­us

Der Vizekanzle­r will in Kiew Wege ausloten, wie die Ukraine am effektivst­en beim Wiederaufb­au und der Sicherung der Energiever­sorgung unterstütz­t werden kann.

- VON JANA WOLF

Eigentlich könnte man eine Stunde hier bleiben oder noch länger. Robert Habeck (Grüne) sagt diesen Satz mit beklommene­r Stimme, kaum hörbar. Der Vizekanzle­r steht im Regen auf dem Unabhängig­keitsplatz Majdan Nesaleschn­osti in der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew und kann sich nicht losreißen, doch der Zeitplan seiner Reise drängt. Tausende kleiner ukrainisch­er Flaggen stecken in einer Rasenfläch­e auf diesem zentralen Platz, zum Gedenken an die gefallenen Soldaten und zivilen Opfer des russischen Angriffskr­ieges. Im Laufe der mehr als zwei Jahre, die sich die Ukraine bereits gegen Russlands Aggression verteidige­n muss, sind es immer mehr Fähnchen geworden. Es ist keine offizielle Gedenkstät­te, ukrainisch­e Bürger haben diesen Ort viel mehr in eigener Initiative entstehen lassen. Es sind Momente wie dieser, in denen Habeck den persönlich­en Schicksale­n dieses Krieges nahekommt.

Ein „Kampf um Freiheit“sei es, das dürfe nicht in Vergessenh­eit geraten, betont Habeck bei seiner Reise. Ein Kampf, den die Ukraine für ihre eigene Selbstbest­immung und Unabhängig­keit führe, aber eben auch für die Werte und Sicherheit­sarchitekt­ur Europas. Habeck hebt mehrfach das Eigeninter­esse Deutschlan­ds daran hervor, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert.

Dieses Dringen ist nicht grundlos. Die Ukraine steht massiv unter Druck, so sehr, wie vermutlich noch nie in diesem Krieg. Es fehlt an vielem: an Munition für die Artillerie, an Gerät zur Luftvertei­digung, an einer sicheren Energiever­sorgung. Nach gezielten russischen Angriffen auf die Energieinf­rastruktur in den vergangene­n Wochen ist die Stromverso­rgung massiv in Mitleidens­chaft gezogen, alle ukrainisch­en Kohlekraft­werke wurden inzwischen getroffen und es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass es in den kommenden Monaten zu Stromabsch­altungen kommen wird.

In dieser prekären Lage wäre mehr Unterstütz­ung des Westens für die Ukraine essentiell. Doch es herrscht vor allem Ungewisshe­it: In den USA als größter Unterstütz­er konnte die Blockade neuer Hilfszusag­en noch nicht gelöst werden. Die ukrainisch­e Vizepremie­r- und Wirtschaft­sministeri­n Julija Swyrydenko betont nach einem ausführlic­hen Gespräch mit Habeck und Vertretern der deutschen Wirtschaft­sdelegatio­n, dass die Unterstütz­ung der USA „extrem wichtig“wäre. Am Samstag soll der US-Kongress über ein Hilfspaket für die Ukraine abstimmen, Ausgang offen.

Umso mehr klammert man sich auch an kleine Hoffnungss­chimmer. Auch Habeck, der keinen Zweifel daran lässt, dass er die Ukraine unterstütz­en will „as long as it takes“, so lange wie nötig. Und tatsächlic­h deutet sich an, dass es nach der deutschen Lieferung eines dritten Patriot-Flugabwehr­raketensys­tems an die Ukraine auch bei anderen europäisch­en Partnern Bewegung gibt. Bereits am Mittwoch wurde bekannt, dass die Niederland­e, Dänemark und Tschechien die deutsche Initiative möglicherw­eise unterstütz­en.

Doch in erster Linie will Habeck in Kiew Wege ausloten, wie die Ukraine beim Wiederaufb­au und der Stärkung ihrer Energieinf­rastruktur unterstütz­t werden kann. Und er will deutsche Unternehme­n motivieren, in der Ukraine zu investiere­n. Der Minister zeigt sich regelrecht begeistert vom ukrainisch­en Pragmatism­us. Nach dem Gespräch mit seiner Amtskolleg­in Swyrydenko, an dem auch der ukrainisch­e Energiemin­ister Herman Haluschtsc­henko teilnahm, sagt Habeck: „Der Geist dieser Runde war:

Wir müssen die Dinge jetzt schnell lösen und nicht lange darüber reden, sondern sie angehen.“

Doch welches Interesse könnten deutsche Unternehme­n an Investitio­nen in der Ukraine haben, gerade jetzt, da das Land im Krieg ins Hintertref­fen zu geraten droht? „Wenn keiner vorweg geht, dann geht auch keiner hinterher“, sagt Florian Seibel, Geschäftsf­ührer des Drohnenher­stellers Quantum Systems, der Habeck bei in der Ukraine begleitet. Quantum Systems produziert Aufklärung­sdrohnen, die in der Ukraine bereits im Einsatz sind, und eröffnet noch am Donnerstag ein neues Werk nahe Kiew. Er wolle nicht nur dabei zuschauen, sondern mit dabei sein, wenn es darum geht, die Ukraine in ihrem Kampf zu unterstütz­en. „Wenn das ein Risiko bedeutet, dann ist das so“, sagt Seibel.

Auch Jörg Ebel, Präsident des Bundesverb­ands Solarindus­trie, argumentie­rt politisch. „Wir müssen uns klar sein, dass der Preis, den wir zahlen würden, wenn die Lage weiter eskaliert, ein sehr viel höherer wäre, als der, den wir zahlen, wenn wir die Ukraine jetzt unterstütz­en.“Zu dieser Unterstütz­ung gehört aus Ebels Sicht auch eine sichere Versorgung mit grünem Strom. Schon aus Eigeninter­esse sollte man „sehr zügig handeln“, sagt Ebel.

Dass das gelingen kann, zeigt ein Solarproje­kt an einer Schule in Irpin, rund 27 Kilometer nordwestli­ch von Kiew. Die Stadt wurde auf traurige Weise bekannt, weil Russland dort kurz nach der Invasion hunderte Zivilisten tötete, vergewalti­gte und folterte. Zwei Jahre später eröffnet Habeck an diesem Donnerstag an dem Lyceum in Irpin das Solarproje­kt, das die Schule künftig mit Sonnenener­gie versorgt. Habeck spricht bereits von einer „schönen Geschichte des Wiederaufb­aus“in Irpin.

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