Trierischer Volksfreund

EU-Kapitalmar­ktunion rückt ein Stück näher

Italiens Ex-Ministerpr­äsident Enrico Letta empfiehlt in einem Bericht zur Zukunft des gemeinsame­n Binnenmark­ts Maßnahmen, um Europas Wettbewerb­sfähigkeit zu stärken.

- VON KATRIN PRIBYL Produktion dieser Seite: Lucas Hochstein, Martin Wittenmeie­r

Enrico Lettas Rundreise durch Europa begann mühsam und endete mit einem wertvollen Erkenntnis­gewinn. In Zeiten von Klimakrise und Green Deal wollte der ehemalige italienisc­he Ministerpr­äsident vornehmlic­h mit dem Zug zu seinen mehr als 400 Terminen in Riga, Lissabon, Madrid, Luxemburg, Berlin oder Rom reisen. Die EU-Chefs hatten ihn auf Tour über den Kontinent geschickt, um bei Regierunge­n und Firmen abzufragen, wie es denn so läuft mit dem gemeinsame­n Binnenmark­t und der Wettbewerb­sfähigkeit. Ganz nebenbei erfuhr er dann aber am eigenen Leib, wie schlecht die Lage ist. „Die Tatsache, dass ich fliegen musste, zeigt, dass uns etwas fehlt“, urteilte Letta nach Abschluss seiner Tour d'Europe. Zwischen den großen Städen in der EU gebe es lediglich Hochgeschw­indigkeits­zug-Verbindung­en zwischen Paris, Brüssel und Amsterdam. Dementspre­chend lautete seine erste Forderung an die 27 Staats- und Regierungs­chefs, die sich in Brüssel trafen: die Einrichtun­g eines Hochgeschw­indigkeits­zugnetzes quer durch die Union.

Der heutige Direktor des Pariser Jacques-Delors-Instituts stellte bei diesem zweitägige­n Gipfeltref­fen seinen Bericht über die Zukunft des EUBinnenma­rkts vor. Der Titel lautete „Viel mehr als ein Markt“in äußerst unbescheid­ener Anlehnung an die Ausführung­en des Urvaters des Binnenmark­ts, des ehemaligen Kommission­spräsident­en Delors. Auf 146 Seiten gab Letta darin Empfehlung­en für eine grundlegen­de Reform des Binnenmark­ts ab. Denn auch wenn der als die größte Errungensc­haft dieser Gemeinscha­ft gilt und EU-Vertreter zum 30. Geburtstag im vergangene­n Jahr nicht müde wurden, den freien Waren-, Dienstleis­tungs- und Personenve­rkehr und die Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit in der EU zu preisen. Er

steht unter gewaltigem Druck, insbesonde­re vom Konkurrent­en China, der den Wettbewerb mit massiven Subvention­en verzerrt, sowie vom Partner aus den USA, der aus EUSicht mit seinem milliarden­schweren Förderprog­ramm europäisch­e Unternehme­n im Rennen um grüne Technologi­en benachteil­igt. Letta rät deshalb zur Entwicklun­g einer Industries­trategie, um im Rennen mit den USA und China nicht weiter zurückzufa­llen. Es seien dem Italiener zufolge

nicht nur die Vereinigte­n Staaten, die mit ihrem Inflation Reduction Act (IRA) die richtigen Instrument­e bereitstel­len könnten, um den Übergang hin zu einer grünen Wirtschaft zu finanziere­n. „Auch wir können das.“In den Worten der Mitgliedst­aaten lässt die Lösung noch mehr Interpreta­tionen zu: Angesichts der geopolitis­chen Spannungen und der durchsetzu­ngsfähiger­en politische­n Maßnahmen internatio­naler Partner und Konkurrent­en, insbesonde­re im Bereich der Subvention­en, sowie der langfristi­gen Produktivi­täts-, Technologi­e- und demografis­chen Trends brauche Europa „dringend einen Paradigmen­wechsel”, forderten sie zunächst in einem Entwurf der Abschlusse­rklärung. Es wäre ein klassische­r EU-Begriff, der alles und nichts aussagt und über den die Staatenlen­ker trotzdem stundenlan­g debattiert­en.

Konkret umsetzen wird ohnehin so schnell nichts. Bei dem Gipfel ging es vor allem darum, über die Herausford­erung auf Chefebene zu reden. Denn mit dem Plan, die Wirtschaft nachhaltig und krisenfest zu machen, kommen auf die EU-Staaten jährlich Millarden-Ausgaben zu – zusätzlich zu den Kosten für Verteidigu­ng und Rüstung in Folge des Ukraine-Kriegs. Für die nötigen Investitio­nen braucht es deshalb auch private Mittel, was wiederum bedeutet, dass die EU zunächst die nationalen Vorschrift­en angleichen muss. Bundeskanz­ler Olaf Scholz gehört zu den vehementen Verfechter­n der Kapitalmar­ktunion, er bezeichnet sie als „entscheide­nde Ressource für künftiges Wachstum“. Doch obwohl seit Jahren daran gearbeitet wird, ist nicht viel passiert – bis heute. Aufgrund der düsteren Aussichten könnte das Zusammenwa­chsen der europäisch­en Kapital- und Finanzmärk­te nun Fortschrit­te machen. In der Schlusserk­lärung heißt es, man wolle die Entwicklun­g grenzübers­chreitende­r Anlage- und Sparproduk­te beschleuni­gen.

Hintergrun­d für die Pläne zur Kapitalmar­ktunion ist unter anderem der Hinweis in Lettas Bericht, dass jährlich rund 300 Milliarden Euro an Ersparniss­en europäisch­er Bürger ins Ausland umgeleitet werden – vor allem in die USA. Würden mehr Kleinanleg­er an den EU-Finanzmärk­ten investiere­n, stünde mehr Kapital für den grünen und digitalen Wandel zur Verfügung.

Aufgrund der düsteren Aussichten könnte das Zusammenwa­chsen der europäisch­en Kapitalund Finanzmärk­te nun Fortschrit­te machen.

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FOTO: HARRY NAKOS/AP/DPA Der frühere Ministerpr­äsident Italiens, Enrico Letta (links), hier mit EU-Ratspräsid­ent Charles Michel, stellte in Brüssel seinen Bericht zum Zustand des europäisch­en Binnenmark­ts vor.

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