EU-Kapitalmarktunion rückt ein Stück näher
Italiens Ex-Ministerpräsident Enrico Letta empfiehlt in einem Bericht zur Zukunft des gemeinsamen Binnenmarkts Maßnahmen, um Europas Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Enrico Lettas Rundreise durch Europa begann mühsam und endete mit einem wertvollen Erkenntnisgewinn. In Zeiten von Klimakrise und Green Deal wollte der ehemalige italienische Ministerpräsident vornehmlich mit dem Zug zu seinen mehr als 400 Terminen in Riga, Lissabon, Madrid, Luxemburg, Berlin oder Rom reisen. Die EU-Chefs hatten ihn auf Tour über den Kontinent geschickt, um bei Regierungen und Firmen abzufragen, wie es denn so läuft mit dem gemeinsamen Binnenmarkt und der Wettbewerbsfähigkeit. Ganz nebenbei erfuhr er dann aber am eigenen Leib, wie schlecht die Lage ist. „Die Tatsache, dass ich fliegen musste, zeigt, dass uns etwas fehlt“, urteilte Letta nach Abschluss seiner Tour d'Europe. Zwischen den großen Städen in der EU gebe es lediglich Hochgeschwindigkeitszug-Verbindungen zwischen Paris, Brüssel und Amsterdam. Dementsprechend lautete seine erste Forderung an die 27 Staats- und Regierungschefs, die sich in Brüssel trafen: die Einrichtung eines Hochgeschwindigkeitszugnetzes quer durch die Union.
Der heutige Direktor des Pariser Jacques-Delors-Instituts stellte bei diesem zweitägigen Gipfeltreffen seinen Bericht über die Zukunft des EUBinnenmarkts vor. Der Titel lautete „Viel mehr als ein Markt“in äußerst unbescheidener Anlehnung an die Ausführungen des Urvaters des Binnenmarkts, des ehemaligen Kommissionspräsidenten Delors. Auf 146 Seiten gab Letta darin Empfehlungen für eine grundlegende Reform des Binnenmarkts ab. Denn auch wenn der als die größte Errungenschaft dieser Gemeinschaft gilt und EU-Vertreter zum 30. Geburtstag im vergangenen Jahr nicht müde wurden, den freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr und die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU zu preisen. Er
steht unter gewaltigem Druck, insbesondere vom Konkurrenten China, der den Wettbewerb mit massiven Subventionen verzerrt, sowie vom Partner aus den USA, der aus EUSicht mit seinem milliardenschweren Förderprogramm europäische Unternehmen im Rennen um grüne Technologien benachteiligt. Letta rät deshalb zur Entwicklung einer Industriestrategie, um im Rennen mit den USA und China nicht weiter zurückzufallen. Es seien dem Italiener zufolge
nicht nur die Vereinigten Staaten, die mit ihrem Inflation Reduction Act (IRA) die richtigen Instrumente bereitstellen könnten, um den Übergang hin zu einer grünen Wirtschaft zu finanzieren. „Auch wir können das.“In den Worten der Mitgliedstaaten lässt die Lösung noch mehr Interpretationen zu: Angesichts der geopolitischen Spannungen und der durchsetzungsfähigeren politischen Maßnahmen internationaler Partner und Konkurrenten, insbesondere im Bereich der Subventionen, sowie der langfristigen Produktivitäts-, Technologie- und demografischen Trends brauche Europa „dringend einen Paradigmenwechsel”, forderten sie zunächst in einem Entwurf der Abschlusserklärung. Es wäre ein klassischer EU-Begriff, der alles und nichts aussagt und über den die Staatenlenker trotzdem stundenlang debattierten.
Konkret umsetzen wird ohnehin so schnell nichts. Bei dem Gipfel ging es vor allem darum, über die Herausforderung auf Chefebene zu reden. Denn mit dem Plan, die Wirtschaft nachhaltig und krisenfest zu machen, kommen auf die EU-Staaten jährlich Millarden-Ausgaben zu – zusätzlich zu den Kosten für Verteidigung und Rüstung in Folge des Ukraine-Kriegs. Für die nötigen Investitionen braucht es deshalb auch private Mittel, was wiederum bedeutet, dass die EU zunächst die nationalen Vorschriften angleichen muss. Bundeskanzler Olaf Scholz gehört zu den vehementen Verfechtern der Kapitalmarktunion, er bezeichnet sie als „entscheidende Ressource für künftiges Wachstum“. Doch obwohl seit Jahren daran gearbeitet wird, ist nicht viel passiert – bis heute. Aufgrund der düsteren Aussichten könnte das Zusammenwachsen der europäischen Kapital- und Finanzmärkte nun Fortschritte machen. In der Schlusserklärung heißt es, man wolle die Entwicklung grenzüberschreitender Anlage- und Sparprodukte beschleunigen.
Hintergrund für die Pläne zur Kapitalmarktunion ist unter anderem der Hinweis in Lettas Bericht, dass jährlich rund 300 Milliarden Euro an Ersparnissen europäischer Bürger ins Ausland umgeleitet werden – vor allem in die USA. Würden mehr Kleinanleger an den EU-Finanzmärkten investieren, stünde mehr Kapital für den grünen und digitalen Wandel zur Verfügung.
Aufgrund der düsteren Aussichten könnte das Zusammenwachsen der europäischen Kapitalund Finanzmärkte nun Fortschritte machen.