Trierischer Volksfreund

Dem Himmel ganz nah

Dieter Buck und Claudia Fürst kommen jeden Tag auf den Trierer Hauptfried­hof. Immer um die Mittagszei­t, immer an dieselbe Stelle, an das Grab ihrer Tochter Sylvie. Sie war 30 Jahre alt, als sie im Oktober 2020 starb. Die Geschichte von besonderen Menschen

- VON MAREK FRITZEN Produktion dieser Seite: Anna Hartnack

Sie hätte ihn geliebt, diesen Platz. Dieter Buck ist sich sicher. Allein wegen des Baumes. Sie liebte Bäume. Ihr Leben lang. Wenn sie nach oben Richtung Himmel schaute, dann gaben sie ihr Halt, die Baumkronen, Orientieru­ng. Ihr Leben lang. Einfach so in den blanken Himmel schauen, das war schwierig für Sylvie Fürst, da wurde sie unruhig. Zu Hause, im Kinderzimm­er, da bauten Dieter Buck und Claudia Fürst ihrer Tochter ein Bett wie ein Baum. Eins mit einem riesigen Blatt aus Stoff, das wie ein Sonnensege­l zu schweben schien. Das Blatt, es bot Orientieru­ng und Schutz zugleich.

Sylvie Fürst hat nie gesprochen. Mit ihrem Lachen, da sagte sie so viel. „Wenn Sylvie lachte, lagen wir auf

dem Boden, umwerfend“, sagt Dieter Buck. Er deutet auf die Silber-Linde über dem Grab seiner Tochter: „Ich bin mir sicher, sie würde nach oben schauen, die Baumkrone erblicken und lächeln – sie würde ihn mögen, diesen Ort, ganz sicher.“

Dieser Ort – seit dem 17. Oktober 2020 ist kein Tag vergangen, an dem Dieter Buck und Claudia Fürst nicht hier waren. Jeden. Tag. Um die Mittagszei­t sind sie da. Immer. Ob es regnet oder schneit, eine Stunde bleiben sie, mindestens. Meistens länger. Wenn es was zu feiern gibt, zum Beispiel. An Weihnachte­n, an Ostern, oder zum Geburtstag. Dann, wenn sich große Ballons am Grabstein im Winde wiegen. Es gebe, sagt Dieter Buck, es gebe so viel zu feiern auf dem Trierer Hauptfried­hof. Denn, und das ist dem 83-Jährigen ganz wichtig zu betonen, sie seien nicht zum Trauern hier am Grab ihrer Tochter, das sei kein Ort der Dunkelheit, des Weinens. Im Gegenteil: „Es ist wunderschö­n, hier ist man frei.“

Er lächelt, blickt auf die bunten Blumen. „Nach einem solchen Verlust ist es so wichtig, nicht in Trauer und Untätigkei­t zu ersticken …“

Es ist ein Mittwochvo­rmittag im April. Die Sonne strahlt, dennoch erinnert der eisige Wind daran, dass es noch ein paar Tage hin sind, bis er so richtig da ist, der Frühling. Dieter Buck steht vor dem Grab seiner Tochter im südlichen Teil des weitläufig­en Areals, der prachtvoll­e Haupteinga­ng an der Herzogenbu­scher Straße liegt gut 100 Meter entfernt. Claudia Fürst, seine Lebensgefä­hrtin und Mutter seiner Tochter, sie ist heute nicht dabei. Absolute Ausnahme. Die Knie, in wenigen Tagen wird sie operiert. Aber später, am Nachmittag, so versichert Buck, da kämen sie nochmal zusammen her. Bald vier Jahre sind es nun schon, seitdem Sylvie Fürst

gestorben ist. Sie wurde 30 Jahre alt. Ein Wunder, sagt Dieter Buck. Zwei Jahre hatten die Ärzte ihr damals gegeben, sagt Dieter Buck. Sie ist wenige Monate alt, da wird bei ihr eine Stoffwechs­elerkranku­ng diagnostiz­iert. Pyruvatdeh­ydrogenase­kurz PDH, extrem selten und unheilbar. Sie wird niemals sprechen können, niemals laufen. Ein Schock für Dieter Buck und Claudia Fürst. Sie geben nicht auf, sie zerbrechen nicht. Dieter Buck sagt: „Es ist so wichtig, dass man zusammenhä­lt in solchen Situatione­n, es zusammen meistert. Das schafft nicht jeder.“

Sie schaffen es, halten den Kopf oben, bleiben positiv. Zwei Jahre? Die Eltern denken nicht daran, wollen ihrer Tochter so viel Leben schenken wie nur möglich. Sie besorgen sich ein Wohnmobil. Gestalten es um,

bauen darin Sylvies Kinderzimm­er nach. Bilder, Schrank, alles wie daheim. Sie wollen raus mit Sylvie, ihr zeigen, wie sie aussieht, die Welt, wie sie riecht, wie sie klingt. Der Wagen, er bekommt eine Funktion zum rausfahren des Bettes, raus an die frische Luft. Sie reisen mit Sylvie nach Bayern unter Bäume, sie reisen mit Sylvie nach Holland ans Meer. Sie parken an Orten, an denen sie nicht parken dürfen. Die Strafzette­l, er habe irgendwann aufgehört, sie zu zählen, sagt Dieter Buck. Geld oder Leben? Es kann so leicht sein, Antworten zu finden …

Manchmal, sagt Dieter Buck, manchmal bevor sie nach Hause gehen, den Hauptfried­hof wieder verlassen, stelle er sich vor das Grab und gebe seiner Tochter noch mit auf den Weg, sie solle anständig bleiben, sich benehmen, es käme schließlic­h noch Besuch, die Eichhörnch­en. Dieter Buck lächelt. „Die Natur und all die Tiere, die bunte Vogelwelt hier auf dem Hauptfried­hof, es ist eine pure

Freude.“

Er hat den Satz kaum ausgesproc­hen, da hüpft tatsächlic­h ein Eichhörnch­en aus dem Gebüsch: „Da, ich wusste doch, dass es noch kommt“, sagt der gebürtige Bamberger. Es läuft suchend übers Grab, um einen Baum, bleibt kurz stehen, wieder zum Grab, blickt zu Dieter Buck. „Ich habe leider noch keine Walnüsse für dich, später, okay?“

Für die Eichhörnch­en Nüsse, für die Vögel Körner. Gleich gegenüber, direkt neben der braunen Holzbank, dort, wo Dieter Buck und Claudia Fürst immer Platz nehmen, wenn sie das Grab wieder hergericht­et, neue Blumen gepflanzt, das Laub drumherum entfernt haben, dort haben sie drei Steine platziert. Kleine Futterstel­len, eine für die Amsel, eine für das Rotkehlche­n, eine für den Eichelhähe­r. „So etwas wie hier“, findet Dieter Buck, „das gibt's in Trier kein zweites Mal“. Allein der – wie er es nennt – „ehrwürdige Baumbestan­d“, ein Segen. „Man muss schon lange suchen, um Naturdenkm­äler wie Hängebuche­n und Höhlenbäum­e in Europa zu finden – hier gibt es sie.“Dass dies alles so existiere, so erhalten bleibe, das sei der Verdienst – und auch das ist ihm ganz wichtig zu betonen – des Hauptfried­hof-Teams.

Angst vor dem Tod, übrigens, nein, die habe er nicht, noch nie gehabt. Wenn sein Leben ende, dann werde er seiner Tochter noch näher sein. Die Urne, auch die seiner Lebensgefä­hrtin, sie werden beide zusammen mit in Sylvies Grab kommen. Es werde dann, so sagt es Dieter Buck, „ein Familientr­eff“. Alles schon geregelt. „Hier“, sagt Dieter Buck und deutet auf eine Ecke des Grabes, „hier wird meine Urne reinkommen, dort die meiner Lebensgefä­hrtin“. Diese 30 Jahre mit seiner Tochter, sagt Dieter Buck, das klinge jetzt vielleicht überheblic­h, aber wer die nicht miterlebt habe, der wisse nicht, was er versäumt habe: „Wenn man guten Mutes bleibt, ist so vieles möglich.“

„Wenn man guten Mutes bleibt, ist so vieles möglich.“Dieter Buck Mit 30 Jahren ist seine Tochter Sylvie gestorben.

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FOTOS (2): MAREK FRITZEN Kommt jeden Tag zum Grab seiner Tochter auf den Hauptfried­hof: Dieter Buck. Normalerwe­ise begleitet ihn seine Lebensgefä­hrtin Claudia Fürst.
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„So einen Ort gibt es in Trier kein zweites Mail“: Dieter Buck auf einer Bank gegenüber des Grabs seiner Tochter auf dem Hauptfried­hof.

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