Der Hoffnungsträger der Linken für Europa
Vor den EU-Wahlen legt Raphaël Glucksmann kontinuierlich zu. Der Kandidat eines sozialistischen Bündnisses wird deshalb zum Ziel seiner Konkurrentinnen.
„Die Fahnen raus“, ruft der Sprecher der Menge im Zenith von Nantes zu. Zu den Klängen von „We are friends“bahnt sich Raphaël Glucksmann den Weg durch die rund 3000 Menschen, die gekommen sind, um ihn zu sehen. Eher schüchtern schüttelt der Dokumentarfilmer seinen Anhängerinnen und Anhängern die Hände und verteilt Wangenküsschen. Der 44-Jährige ist der neue Hoffnungsträger der gemäßigten Linken. Als Spitzenkandidat eines Bündnisses seiner linksökologischen Partei Place publique mit den Sozialisten liegt er in Umfragen derzeit bei rund 14 Prozent – nur zwei Punkte hinter der Präsidentenpartei Renaissance. „Glucksmania“nennen die französischen Medien die wachsende Zustimmung zu dem Europaabgeordneten, der 2019 mit nur gut sechs Prozent ins EU-Parlament gewählt worden war.
Im französischen Europawahlkampf ist Glucksmann der Kandidat mit der größten Dynamik. Mit knapp zehn Prozent gestartet, legte er in den vergangenen Wochen kontinuierlich zu. Dem rechtspopulistischen Rassemblement National kann er zwar nicht schaden, denn dessen Spitzenkandidat Jordan Bardella liegt mit gut 30 Prozent uneinholbar in Führung.
Doch das Lager von Emmanuel Macron muss den Bewerber fürchten, der den sozialdemokratisch orientierten Wählerinnen und Wählern nach dem Rechtsruck des Präsidenten eine neue Heimat bieten könnte. Auch die enttäuschten Anhänger der Linksaußen-Partei La France Insoumise
(LFI) könnten bei den Wahlen am 9. Juni zu Glucksmann abwandern.
Laut einer Studie der den Sozialisten nahestehenden Stiftung Jean Jaurès kommen 38 Prozent der potenziellen Wählerinnen und Wähler Glucksmanns von LFI und 30 Prozent von Macrons Renaissance. „Die Kraft des Kandidaten besteht darin, sowohl einen Teil der radikalen Linken als auch der linken Mitte zusammenzubringen“, schreibt der Politologe Antoine Bristielle. „Er ist potenziell in der Lage, wieder einen sozialdemokratischen Raum zu schaffen.“
Die Sozialisten, die mit erbärmlichen 1,7 Prozent für ihre Kandidatin Anne Hidalgo bei den Präsidentschaftswahlen 2022 untergingen, wittern deshalb Morgenluft. Im Linksbündnis Nupes, dem sie seit zwei Jahren angehört, ist die Partei mit der Rose nur der Juniorpartner der LFI von Jean-Luc Mélenchon. „Wir sind dabei, die Linke von Badinter und Delors wieder zu erwecken“, beschwor Glucksmann in Nantes eine Bewegung, die die Menschenrechtsideale des früheren Justizministers Robert Badinter und die europäische Idee des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors vertritt.
„Reveiller l'Europe“(Europa aufwecken) lautet das Motto seines Wahlkampf, das in großen lila Buchstaben in Nantes auf der Bühne prangt. Mit seiner klar pro-europäischen Linie unterscheidet sich der Kandidat klar von LFI, die sich von den europäischen Verträgen abwenden will. LFI und Grüne, die ebenfalls zur Nupes gehören, lassen keine Gelegenheit aus, Glucksmann zu kritisieren. Vor allem, weil ihre Spitzenkandidatinnen Manon Aubry (LFI) und Marie Toussaint (Grüne) weit abgeschlagen bei rund sieben Prozent liegen. „Das Risiko besteht darin, mit einem Votum für Raphaël Glucksmann am 9. Juni einzuschlafen und am 10. mit der Rückkehr von François Hollande aufzuwachen“, warnte Toussaint bei einer Kundgebung in Paris.
Der Sozialist Hollande war 2017 nach nur einer Präsidentschaft nicht mehr angetreten, weil er extrem unbeliebt war. Inzwischen gehört der 69-Jährige, der für sozialliberalen Reformen wie die Lockerung des Arbeitsrechts kritisiert wurde, wieder zu den populärsten Persönlichkeiten des Landes. Sogar eine Rückkehr in die Politik schließt Hollande nicht aus.
Auch von der Macron-Partei wird Glucksmann in die Zange genommen. „Sie sind der Baum, hinter dem sich die Nupes versteckt“, kritisierte Spitzenkandidatin Valérie Hayer in einer Fernsehdebatte dessen Verbindungen zur Nupes. Denn auch wenn der Sohn des Philosophen André Glucksmann offiziell nichts mit der Nupes zu tun hat, gehören die Sozialisten doch zum Linksbündnis des immer radikaler werdenden Mélenchon. Seit dem Hamas-Angriff auf Israel im Oktober liegt die Allianz allerdings auf Eis. Nach den Europawahlen könnte sie ganz auseinander brechen.