Europa ist noch immer nicht aufgewacht
Der britische Premierminister hat sich sehr viel Zeit gelassen. Seit eineinhalb Jahren ist er im Amt, und erst jetzt hat er es mal nach Berlin geschafft, um Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einen Antrittsbesuch abzustatten. Das allein sagt schon etwas darüber aus, wie sich das deutsch-britische Verhältnis seit dem Brexit abgekühlt hat. Und doch ist Rishi Sunak an diesem Mittwoch zu einem richtigen Zeitpunkt ins Kanzleramt gekommen. Denn es bedarf eiliger Entscheidungen im Kreis der europäischen Staaten mit Blick auf den Abwehrkampf, den die Ukraine seit mehr als zwei Jahren gegen Russland führt.
Und trotz aller Differenzen stehen Deutschland und Großbritannien in diesem Punkt eng beieinander. Enger als mit manch anderen europäischen Partnern. Das ist so wichtig, weil es um nichts weniger als das Überleben des Staates Ukraine und die Verteidigung der auf dem Völkerrecht basierenden internationalen Ordnung geht. Bei ihrem Treffen haben Scholz und Sunak eine „gemeinsame Verständigung“formuliert, die neben militärischen Kooperationen beider Länder Druck ausüben soll auf die anderen Staaten in Europa. In der Erklärung betonen Deutschland und das Vereinigte Königreich, dass sie die beiden europäischen Staaten seien, die die größte militärische Unterstützung für die Ukraine leisten. Damit beanspruchen sie auch eine Führungsrolle bei der Koordinierung weiterer europäischer Hilfen. Das ist dringend notwendig, schließlich ist völlig offen, ob und wie die USA jenseits des jüngsten Hilfspakets künftig der Ukraine Unterstützung zukommen lassen werden.
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass es weder Scholz noch Sunak bislang vermocht haben, ihre Führungsrolle bei den Ukraine-Hilfen
in konkrete Zusagen anderer großer Staaten wie Frankreich, Spanien und Italien umzumünzen. Jüngstes Beispiel ist das Zaudern mehrerer EU-Staaten bei der Zusicherung weiterer Luftverteidigungssysteme vom Typ Patriot. Nur Deutschland hat dies getan. Und die Briten haben das größte Hilfspaket seit Kriegsbeginn vor mehr als zwei Jahren beschlossen.
Das zeigt leider, dass Europa auch nach mehr als zwei Jahren Krieg noch immer nicht vollständig aufgewacht ist. Noch immer lehnt man sich in der scheinbaren Gewissheit zurück, dass am Ende die USA doch wieder Fahrzeuge, Waffen und Munition im großen Stil in das angegriffene Land schicken werden und so vor einem russischen Durchmarsch bewahren. Das ist stolzen europäischen Nationen unwürdig, es ist bitter angesichts des brutalen Überlebenskampfes der Ukraine und es ist kurzsichtig bis gefährlich, weil auch die europäischen Werte wie Frieden und die Freiheit unter Beschuss stehen.
Es ist die Aufgabe von Scholz und Sunak, den Druck nicht nur zwischen den Zeilen in einer gemeinsamen Erklärung zu erhöhen. Das Wegducken von Ländern wie Frankreich, das sonst auch gern zum Führungszirkel in Europa gehört, muss ein Ende nehmen. Bleibt zu hoffen, dass am Freitag Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei einem Besuch seines französischen Amtskollegen Sébastien Lecornu am Freitag etwas erreichen kann.