Endlich Führungsspieler
Marcel Sabitzer schickt sich an, Dortmunds neuer Mittelfeldchef zu sein. Die Rolle war seit Jude Bellinghams Abgang verwaist.
Eigentlich wäre Marcel Sabitzer (30) noch gut ein Jahr Spieler bei Bayern München. Schließlich hatte der Österreicher dort 2021 einen Vertrag bis zum Sommer 2025 unterschrieben. Aber mit den Verträgen im Fußball ist das bekanntlich so eine Sache. Deshalb landete Sabitzer im Juli 2023 nach wenig überzeugenden Vorstellungen in München und einem ebenfalls nicht befriedigenden halben Jahr als Leiharbeiter bei Manchester United in Dortmund. Nach Anlaufschwierigkeiten ist er bei der westfälischen Borussia so richtig angekommen. Zahlen unterstreichen das: Sechs Torbeteiligungen in den vergangenen drei Spielen (drei Treffer, drei Vorlagen) geben seinem Klub die Hoffnung, noch einen sehr erfreulichen Saisonausklang zu erleben.
In der Champions League liegt der BVB bereits über dem Soll. In einem hinreißenden Viertelfinal-Rückspiel schaltete er Atlético Madrid mit 4:2 aus (Hinspiel: 1:2), Sabitzer erzielte ein Tor selbst, zwei weitere legte er auf. „Für mich ist er der Mann des Spiels“, sagte sein Mitspieler Julian Brandt, den die Uefa-Offiziellen
mit der Trophäe für den „Man of the Match“auszeichneten. Sabitzer schaltete in der Begegnungszone des Stadions den Lautsprecher auf ganz leise und stellte artig fest: „Champions League-Viertelfinale, 80.000 Zuschauer, davon träumst du als kleiner Junge.“Vor dem Halbfinal-Hinspiel gegen Paris St. Germain (Mittwoch, 1. Mai, 21 Uhr) träumt der einstige kleine Junge von mehr: „Wenn du im Halbfinale stehst, willst du auch ins Finale.“
Vor den großen europäischen Ehren steht aber noch das Pflichtprogramm in der Bundesliga. Für den Liga-Endspurt hat Borussia Dortmund selbst in der europäischen Meisterklasse ordentliche Vorarbeit geleistet. Der Sieg über Atlético trug dazu bei, dass die oberste deutsche Spielklasse im Sommer bereits mehr als nur vorsichtig mit fünf Startplätzen in der Champions League rechnen darf. Deutschland liegt vor den uneinholbar enteilten Italienern auf dem zweiten Rang der Jahreswertung, der einen weiteren Starter in der Königsklasse garantiert. Verfolger England hat nur noch Aston Villa in der Conference League im Wettbewerb, während die Bundesliga mit dem BVB und Bayern (Champions
League) und Bayer Leverkusen (Europa League) im Rennen ist. Jeder Sieg bringt zwei, jedes Unentschieden einen und das Weiterkommen einen zusätzlichen Punkt. Theoretisch fehlen der Bundesliga vier Punkte, wenn Aston Villa alles gewinnen würde.
Das sind schöne Aussichten für die Dortmunder, die eben jenen fünften Rang belegen und deren Vorsprung auf Eintracht Frankfurt (zwölf Punkte) in vier Spielen wohl kaum verspielt werden kann – nicht einmal von einer Mannschaft, die sich in der vergangenen Saison im Titelkampf
noch in den letzten 90 Minuten von Bayern München abfingen ließ. Um ganz sicher weiter viel Geld in der Champions League zu verdienen, muss der BVB die herzlich ungeliebten Leipziger noch von Rang vier verdrängen. Bei zwei Punkten Rückstand ist das ein nicht gerade aussichtsloses Unterfangen, zumal weil es just an diesem Wochenende in Leipzig zum direkten Aufeinandertreffen kommt.
Für Sabitzer ist es ein besonders brisantes Duell, schließlich wurde er in der sächsischen Fußballabteilung des Red Bull-Konzerns erwachsen. Das hat ihm den Auftakt in Dortmund nicht leichter gemacht. Die traditionsbewussten Anhänger des BVB begegneten einem Spieler mit Leipziger (und Münchner) Vergangenheit zunächst mal sehr reserviert. Und weil zu Beginn die Schuhe des Vorgängers Jude Bellingham ein wenig groß zu sein schienen, dauerte es, bis Sabitzer seine Rolle fand im Team. Die Fans begriffen, dass er anders als der extrem wuchtige und auffällige Bellingham auch in den beinahe unsichtbaren Bereichen des Mannschaftsspiels entscheidende Beiträge leisten kann, ohne sich immer in den Vordergrund zu drängen.
Und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke erklärte zu Recht: „Seine Entwicklung ist ein Zeichen dafür, dass man einem Spieler ein paar Wochen Zeit geben muss, bis er sich integriert hat.“
Das, so viel steht fest, ist dem Österreicher gelungen. Er ist ein prägender Bestandteil der Mannschaft. Das macht ihn allerdings nicht unangreifbar. Als ausgerechnet sein Gegenspieler Josip Stanisic in der siebten Minute der Nachspielzeit mit einem Kopfballtreffer den 1:1-Endstand im jüngsten Bundesliga-Duell mit dem feststehenden Meister Bayer Leverkusen herstellte, ging Verteidiger Mats Hummels so richtig auf die Zinne.
Gestenreich und lautstark hielt er dem Kollegen Sabitzer seinen Stellungsfehler vor. Und noch viel später schnaubte er wütend über die „1:1-Niederlage“. Ohne Sabitzer wäre es freilich eine 0:1-Niederlage geworden, denn er bereitete die Führung der Dortmunder durch Niclas Füllkrug vor. Ob er Hummels bei der Kabinenaussprache noch mal an die wirre erste halbe Stunde in der Dortmunder Abwehr beim 1:2 in Madrid erinnert hat, ist nicht überliefert. Es ist aber auch nicht wahrscheinlich.