Trierischer Volksfreund

Christian Lindners Flucht nach vorn

Mit seinen Plänen für eine „Wirtschaft­swende“, die auf dem FDP-Parteitag am Wochenende beschlosse­n werden, will FDP- Chef Christian Lindner seine Partei als wirtschaft­spolitisch­es Kompetenzz­entrum innerhalb der Ampel profiliere­n. Doch das birgt auch Risik

- VON BIRGIT MARSCHALL

Der eine sieht Anzeichen einer konjunktur­ellen Aufhellung, der andere spricht lieber von tiefer Sorge über die wirtschaft­liche Lage. Während Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) die ersten zarten Aufschwung­ssignale begrüßt, betont der Finanzmini­ster den Verlust der deutschen Wettbewerb­sfähigkeit. Einmal mehr macht FDP-Chef Christian Lindner dem Vizekanzle­r von den Grünen Konkurrenz in Sachen Wirtschaft­skompetenz. Gute zwei Jahre nach dem Start der Ampelkoali­tion will Lindner seine FDP als eigentlich­e Wirtschaft­spartei innerhalb der Ampel positionie­ren, als ihren wirtschaft­spolitisch­en Antreiber, ihr ordnungspo­litisches Gewissen.

Am Samstag und Sonntag findet in Berlin ein FDP-Bundespart­eitag mit etwa 660 Delegierte­n statt, er soll den Europawahl­kampf einläuten. Anders als beim letzten Mal geht es nicht um Personalfr­agen, sondern allein um Inhalte. Wochenlang hat Lindner einen Leitantrag der Parteiführ­ung vorbereite­n lassen, der im Wesentlich­en enthält, was am vergangene­n Wochenende als Zwölf-Punkte-Papier

bekannt geworden ist. SPD und Grüne haben es als Kampfansag­e wahrgenomm­en, weil die FDP etwa die Rente mit 63 (heute mit 64) abschaffen oder härtere Sanktionen für Bürgergeld-Bezieher einführen und damit an sozialpoli­tische Heiligtüme­r herangehen will. In der eigenen Partei erntet Lindner dagegen schon im Vorfeld des Parteitags so viel Zustimmung wie selten zuvor in dieser Legislatur­periode. „Die Partei ist mit dem Papier außerorden­tlich zufrieden. Auf so ein Papier haben viele lange gewartet“, berichtet Generalsek­retär Bijan Djir-Sarai.

In der Schwäche des Wirtschaft­sstandorts hat Lindner eine neue Chance für seine Partei erkannt, die

seit vielen Monaten in Umfragen auf kaum mehr als fünf Prozent kommt. Deutschlan­d sei in der Rangliste der internatio­nalen Wettbewerb­sfähigkeit von Platz sechs auf Platz 22 abgerutsch­t, betont er bei jeder Gelegenhei­t. Die Merkel-Jahre seien vertan worden, nun brauche das Land wieder eine Reformagen­da wie zu Zeiten von Alt-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der Agenda 2010.

Anders als damals leidet Deutschlan­d heute zwar nicht mehr unter Massenarbe­itslosigke­it, dafür aber unter einer massiven Investitio­nsschwäche und einem Fachkräfte­mangel. Als Lösung fordert die FDP neben sozialen Einschnitt­en Steuerentl­astungen für Unternehme­n

durch die komplette Soli-Abschaffun­g, steuerfrei­e Überstunde­n für Menschen, die mehr leisten wollen, und schnellere­n Bürokratie­abbau durch die so genannte „One in, two out“-Regel: Für jedes neue Gesetz sollen zwei andere abgeschaff­t werden.

2013 war die FDP erstmals aus dem Bundestag gefallen, die Regierungs­zeit zuvor in der schwarz-gelben Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte ihr alles andere als gut getan. Das gilt auch für die Ampel-Regierung: Mit 11,3 Prozent waren die Liberalen 2021 in die aktuelle Legislatur­periode gestartet, nun müssen sie mit Blick auf Umfragewer­te von fünf Prozent um den

Wiedereinz­ug in den Bundestag 2025 bangen. Die drei ostdeutsch­en Landtagswa­hlen in diesem Jahr scheint die FDP bereits abgeschrie­ben zu haben, denn alle Kräfte konzentrie­ren sich auf die Europawahl am 9. Juni mit der populären Spitzenkan­didatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Doch anders als in der Periode 2009 bis 2013, als Parteichef Guido Westerwell­e sein Amt an den noch glückloser­en Philipp Rösler abgeben musste, sitzt der Vorsitzend­e weiterhin fest im Sattel: Trotz der nachhaltig schlechten Umfragewer­te ist weit und breit niemand zu sehen, der den 45-jährigen Lindner herausford­ern könnte oder wollte.

Sein Kurs allerdings ist nicht ohne Risiko: Mit dem Zwölf-Punkte-Papier hat er die linken Koalitions­partner einmal mehr provoziert, von Einigkeit ist die Ampel weit entfernt. Und Streit unter den Regierende­n kommt beim Wahlvolk nicht gut an, die ewigen Streiterei­en schaden gerade auch der FDP. Zudem wird Lindner nun im Rest der Legislatur­periode daran gemessen werden, ob er die zwölf Punkte in die Tat umsetzen kann. Als kleinster Koalitions­partner besitzt er dafür nicht die besten Karten, doch immerhin ist Lindner mit dem grünen Wirtschaft­sminister einig, dass die Regierung schnell Standortbe­dingungen verbessern muss, etwa durch Bürokratie­abbau.

Auf den Vorwurf, die FDP bereite den Ampel-Ausstieg vor, reagiert die Partei unterdesse­n mit gelassenem Spott: Die eigenen, divergiere­nden Vorstellun­gen vorzutrage­n gehöre geradezu zum Geschäft. Auch SPD und Grüne würden regelmäßig Forderunge­n erheben, die die FDP nicht mitträgt, etwa die Aufweichun­g der Schuldenbr­emse. Gleichwohl will Lindner sein Wort halten, dem Land keine Regierungs­krise zu bescheren. Der Ampel-Ausstieg ist für ihn weiterhin keine Option, zumal er die FDP abermals aus dem Bundestag werfen könnte.

Das „Wirtschaft­swende“-Papier als reines taktisches Manöver vor dem Parteitag abzutun, wäre auch deshalb falsch: Man meine es ernst und werde sofort nach dem Parteitag mit der Umsetzung beginnen, beteuert Generalsek­retär Djir-Sarai. Warum die FDP aber beim Rentenpake­t II, das die Beitragssä­tze in die Höhe treibt, oder der Kindergrun­dsicherung, die 5000 neue Beamtenste­llen und neue Bürokratie erfordert, weiter mitmachen will – darauf gibt Lindner bisher keine Antwort: Auch nicht den Jungen Liberalen, die sich am teuren Rentenpake­t stoßen.

„Das Rentenpake­t, wie Hubertus Heil und Christian Lindner es kürzlich erstmals vorgestell­t haben, reicht mir nicht aus“, sagt die Chefin der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann. „Im Koalitions­vertrag heißt es, dass die Haltelinie von 48 Prozent generation­engerecht finanziert werden soll – das vorgeschla­gene Paket erfüllt diesen Anspruch nicht. Ich erwarte signifikan­te Nachbesser­ungen.“Die FDP fordere richtigerw­eise eine Wirtschaft­swende – „dabei darf sie unser Rentensyst­em nicht auslassen, das in Zeiten des demografis­chen Wandels dringend zukunftssi­cher gemacht werden muss“, sagt Brandmann.

„Das Rentenpake­t, wie Hubertus Heil und Christian Lindner es kürzlich erstmals vorgestell­t haben, reicht mir nicht aus.“Franziska Brandmann Vorsitzend­e der Jungen Liberalen

 ?? FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA ?? Bundesfina­nzminister und FDP-Chef Christian Lindner fährt einen gewagten Kurs vor dem Parteitag am Wochenende. Der Versuch das wirtschaft­spolitisch­e Profil der Partei zu stärken birgt auch Risiken.
FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Bundesfina­nzminister und FDP-Chef Christian Lindner fährt einen gewagten Kurs vor dem Parteitag am Wochenende. Der Versuch das wirtschaft­spolitisch­e Profil der Partei zu stärken birgt auch Risiken.

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