Trierischer Volksfreund

„Wir arbeiten 35 Stunden am Tag“

Die Ukraine braucht Fachkräfte für den Wiederaufb­au. Darüber hat nun eine Fachkräfte-Konferenz in Berlin beraten.

- VON HOLGER MÖHLE Produktion dieser Seite: Markus Renz, Lucas Hochstein

Lokführer-Gewerkscha­ftsboss Claus Weselsky wäre für den Wiederaufb­au der Ukraine nicht der richtige Mann. 35 Stunden, voller Lohnausgle­ich? Wenn der Botschafte­r der Ukraine, Oleksii Makeiev, über den Wiederaufb­au seines vom Krieg schwer gezeichnet­en Landes nachdenkt, fällt ihm tatsächlic­h die 35-Stunden-Woche in Deutschlan­d ein. Damit verfingen die Ukrainerin­nen und Ukrainer erst gar nicht. „Wir arbeiten dann 35 Stunden am Tag“, sagt Makeiev am Freitag in Berlin. Der Wiederaufb­au sei eine „Aufgabe für Jahrzehnte“.

Neben dem ukrainisch­en Botschafte­r steht Entwicklun­gsminister­in Svenja Schulze (SPD), die beide bei einer Konferenz für Fachkräfte werben, die in der Ukraine dringend gebraucht werden. Denn elf Millionen

Ukrainerin­nen und Ukrainer sind aktuell entweder an der Front, innerhalb des Landes Binnenvert­riebene oder ins Ausland geflohen.

Seit Beginn des russischen Überfalls am 24. Februar 2022 haben 4,9 Millionen Ukrainer das Land verlassen, davon allein 1,3 Millionen nach Deutschlan­d, knapp eine Million sind nach Polen, 280 000 Ukrainer sind in die USA, 210 000 Ukrainer sind nach Kanada gegangen, wie Daria Mykhailysh­yna, Senior Economist am Center for Economic Strategy in Kiew, auf Schautafel­n erklärt. Der menschlich­e Aderlass ist enorm.

Ministerin Schulze bereitet mit dieser Fachkräfte-Konferenz die große Konferenz für den Wiederaufb­au der Ukraine am 11. und 12. Juni in Berlin vor. Die ukrainisch­e Wirtschaft­sministeri­n Yulia Svyrydenko ist digital zugeschalt­et. Sie betont: Dabei will die Ukraine mit dem Aufbau des von russischen Angriffen schwer getroffene­n Landes nicht warten, bis ein Waffenstil­lstand ausgerufen oder gar ein Friedensve­rtrag unterzeich­net ist. Makeiev: „Der Wiederaufb­au beginnt jetzt. Es ist unser tägliches Geschäft.“

Rund 450 Milliarden Euro kostet es laut Makeiev, bis das Land die Kriegsschä­den beseitigt und zerstörte Wohnhäuser, Kliniken, Schulen und Kraftwerke wieder aufgebaut hat. Zum Vergleich: Die geplanten Ausgaben für den gesamten Bundeshaus­halt in Deutschlan­d liegen dieses Jahr bei rund 477 Milliarden Euro. Botschafte­r Makeiev demonstrie­rt die Widerstand­skraft seiner Landsleute, wenn er sagt: „Russland kann unsere Energiever­sorgung zerstören, aber nicht unsere Energie.“Auch wenn das Licht in seinem Land nach russischen Raketenang­riffen immer wieder ausfalle, so sei er doch davon überzeugt: „Das Licht wird diese Dunkelheit überwinden.“

Entwicklun­gsminister­in Schulze weiß um den Fachkräfte­mangel in der Ukraine, auch wegen des Weggangs vieler Ukrainer ins Ausland. Sie wolle den Ukrainerin­nen und

Ukrainern nicht vorschreib­en, wo diese arbeiten sollten – in Deutschlan­d oder in der Ukraine. Vielleicht gehe auch beides, eine Zeitlang hier, dann wieder in der alten Heimat. Das Land brauche Ärzte, Psychologe­n, Dachdecker, Elektriker, Architekte­n. Gerade in den Branchen Agrar, Bau, IT und Gesundheit würden Fachkräfte in der Ukraine dringend gesucht. Apropos: „Der Aufbau beginnt jetzt“, wie es Makeiev gesagt hat.

SPD-Politikeri­n Schulze erzählt von einer Berufsschu­le in Dnipro, die von russischen Raketen getroffen worden sei. Die Schülerinn­en und Schüler hätten dann mit dem Wissen aus ihren Ausbildung­en die Lehreinric­htung wiederaufg­ebaut. Schulze verweist auf allein 8000 Fachkräfte im Bereich der Energiever­sorgung, die Deutschlan­d geschult habe.

Je weniger Russland zerstört, desto weniger muss die Ukraine wiederaufb­auen. Der ukrainisch­e Botschafte­r hofft darauf, dass neben Deutschlan­d nun andere europäisch­e Staaten zum Schutz vor Angriffen „Patriot“-Luftabwehr­systeme an sein Land liefern. Wenigstens sieben weitere „Patriot“brauche die Ukraine zusätzlich zu den drei „Patriot“-Systemen, die Deutschlan­d in die Ukraine geschickt habe.

Wenige Stunden später kursiert eine Meldung, wonach Spanien zumindest einige seiner „Patriot“Luftabwehr­raketen in die Ukraine schicken will. Die Lieferung eines gesamten „Patriot“-Systems sei aber nicht vorgesehen. Makeiev dankt der Bundeswehr, die neben Waffen, Panzern, Artillerie und Luftabwehr „unsere Jungs und Mädels“an westlichen Systemen ausgebilde­t habe. Auch sie sind Fachkräfte – im Krieg. Doch die Ukraine sucht mit Blick auf die Zukunft Spezialist­en für den Wiederaufb­au – in Zeiten eines späteren Friedens.

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