Leben auf schwimmenden Inseln
Das Volk der Uros lebt seit 500 Jahren auf dem Titicacasee. Sie flohen vor den Inkas und entwickelten eine einzigartige Kultur.
Die Not muss groß sein, wenn Menschen auf die Idee kommen, den festen Boden unter den Füßen zu verlassen, um sich auf schwankende Inseln aus Schilf zu retten. Genau das taten die Uros, ein indigenes Volk im heutigen Peru, als die Inkas ihr imperiales Großreich errichteten und auf ihren Eroberungszügen auch die Region um den Titicacasee okkupierten. Die Uros mussten ihr bisheriges Festland-Leben komplett umstellen – und siehe, es ging besser, als sie wohl zunächst dachten.
Der See bot alles, was sie zum Leben brauchten, vor allem einen großen Fischreichtum. Es gibt zwar Inseln im See, doch auch dort waren die Uros nicht sicher. So nutzten sie einen weiteren Rohstoff, der reichlich vorhanden ist: Totora-Schilf. Diese spezielle Binsenart ist vielseitig verwendbar. Die Uros lernten, daraus schwimmende Inseln zu basteln. Und so konnten sie ihre Kultur unabhängig und frei von Unterjochung leben und weiterentwickeln. Sie haben ihre eigene Sprache bis heute erhalten, eine Form der in Peru und Bolivien verbreiteten Aimara-Sprache.
Doch wie leben die Uros heute? Viele der auf 2000 bis 3000 Menschen geschätzten Volksgruppe sind aufs Festland gezogen, die Inka stellen ja keine Gefahr mehr dar. Noch einige hundert leben auf den „islas flotantes“, den schwimmenden Inseln. Die sind unterschiedlich groß. Auf manchen haben die Uros sogar Schulen und Krankenhäuser, und Steuern müssen sie immer noch keine zahlen. Sie pflegen einen einfachen Lebensstil, leben vom Fischfang, vom Tourismus und
vom Schilf.
Dieser Rohstoff bedeutet alles für die Uros, wie Rody erklärt. Der 47-Jährige ist das Oberhaupt einer Uros-Gemeinschaft von fünf Familien, die noch auf den Inseln leben, insgesamt sind es 20 Personen. Er selbst hat vier Kinder. Gäste heißt er mit dem UrosGruß willkommen: „Kami saraki“– „Guten Tag, wie geht's?“Anschaulich erklärt Rody, wie die Schilfinseln gebaut werden. Die ins Wasser ragenden Wurzeln bilden einen gut einen Meter dicken, stabilen, aber eben schwimmenden Untergrund. Die Uros binden Wurzeln und Schilf in Blöcken
zusammen und formen so ihre Insel. Die verankern sie mit Seilen an großen Pfählen aus Eukalyptusholz, die sie in den Seeboden gerammt haben, damit die Inseln nicht auf dem 8300 Quadratkilometer großen Titicacasee herumtreiben. Auf die Insel legen sie in mehreren Schichten Schilfrohre und gestalten so den Boden der Inseln. Darauf errichten sie ihre Hütten – ebenfalls aus Schilf.
Doch die Pflanze bietet den Uros noch viel mehr, erzählt Rody. Teile davon können sie essen, andere als Heilmittel verwenden. Rody zeigt das zum Beispiel mit einem Schilfblatt, das er sich auf die Stirn legt – es helfe gegen Kopfschmerzen. „Das ist unser Aspirin“, sagt er lächelnd. Auch Boote bauen die Uros aus Schilf. Die Pflanze sei die „Basis unserer Kultur“, betont das Familienoberhaupt.
Wie gestalten die Uros ihren Lebensalltag? Auch darüber berichtet Rody gerne und ausführlich. Neben dem Fischfang müssen sie sich immer wieder um die Insel kümmern. Unter Wasser verrottet der Schilf nach und nach. Deshalb müssen sie immer wieder oben neue Schichten auflegen. Auf diese Weise können sie eine Insel 30 bis 35 Jahre lang bewohnen. Sonntags gehen die Uros an Land, tauschen in der Stadt Puno Fisch gegen Kartoffeln, Quinoa, Mais und Getreide. Nur sonntags tragen sie auch Schuhe – auf den Inseln gehen sie barfuß. Einige Gemeinschaften haben sich auf Touristen eingestellt. Sie empfangen ihre Gäste freundlich, zeigen ihnen, wie sie leben, und verkaufen Kunsthandwerk, das sie selbst herstellen. Die Besucher können auch Bootsrundfahrten machen.
Zwischen den Inseln gibt es einen regen sozialen Austausch. Jugendliche treffen sich zum Fußballspielen, die Familienoberhäupter – die alle
verheiratet sein müssen – zu sonntäglichen Sitzungen. Für größere Feiern, zum Beispiel Hochzeiten, legen sie kleine Inseln auch mal zusammen. Und streiten sich die Bewohner einer Insel, wird sie halt getrennt. Moderne Kommunikationsmittel wie Internet oder Telefon gibt es bei den Uros nicht. „Wir informieren uns in Puno über alles, was wichtig ist“, sagt Rody. Schließlich lädt er noch zu einer Rundfahrt auf dem Schilfboot ein, der „Mercedes Rey“, der Königin Mercedes, wie er sein Boot genannt hat.