Trierischer Volksfreund

Als in Lappland die letzte Tür zufiel

In seinem Gedicht „ An den kleinen Radioappar­at“beschrieb Bertolt Brecht 1940 im finnischen Exil seine Not. Auf der Flucht vor den Nazis sah er fast keinen Ausweg. Als sein Freund, der Komponist Hanns Eisler, die Zeilen zwei Jahre später vertonte, gelang

- VON WOLFRAM GOERTZ Produktion dieser Seite: Ralf Jakobs

Soeben ist eine sehr schöne und vor allem sehr wichtige CD erschienen. Sie trägt den Titel „Hollywood Songbook“. Dies ist der berühmte Zyklus mitMusik von Hanns Eisler und Gedichten von Bertolt Brecht (und anderen). Entstanden war er 1942/43 als CoProdukti­on der beiden befreundet­en Künstler im kriegsfern­en Kalifornie­n, dem Exilparadi­es deutscher Flüchtling­e. Die junge, exzellente Mezzosopra­nistin Valerie Eickhoff singt ihn, am Klavier begleitet sie Eric Schneider, der auch schon in der Referenzau­fnahme des Werks mit dem Bariton Matthias Goerne mitwirkte.

In dieser Sammlung aus 47 Liedern gibt es gewiss viele intensive Stellen, doch einen Moment, da man vor lauter Erregung den Atem anhält: im Lied „An den kleinen Radioappar­at“. Eisler komponiert da am Ende fünf Takte, die sich wie eine maximal verdichtet­e Nacherzähl­ung an die Fersen des Flüchtling­s Brecht zu heften scheinen.

Eigentlich wollte Brecht aus Deutschlan­d nie weg. Er träumte von deutschen (und internatio­nalen) Theatern, die ihn spielten, von Opportunis­ten, die er beschimpfe­n konnte, von soliden Verhältnis­sen, hinter deren Fassade er weiterhin sehr unbürgerli­ch mehrere Frauen gleichzeit­ig lieben konnte – er, der großartige Dichter, gloriose Marxist und Meister der Vergnügung­en.

Anderersei­ts waren da die Nazis, die ihn hassten, seine Werke verboten und deren Späher ihn vor sich hertrieben. Was für Brecht in den ersten Monaten nach 1933 die Städte Prag, Wien, Zürich und Paris waren, das waren später Dänemark, ab 1939 Schweden und ein Jahr später Finnland. Einmal sagte er in jenen Jahren: „Ich werde keinen Helden spielen, ich gehe. Es ist besser, einen Brecht draußen zu haben als im Konzentrat­ionslager.“Was aber konnte nach Helsinki kommen? Es gab fast keinen Ausweg mehr, doch Halt: In einem Gedicht deutete Brecht an, wie er Europa verlassen könnte. Es entstammt dem Zyklus „1940“, den Margarete Steffin angelegt hatte. Sie war wie auch Ruth Berlau einer von Brechts vielen amourösen Trabanten gewesen – Mitarbeite­rin und Geliebte in einem, Begleiteri­n und lyrische Sekretärin im Exil. Sie hinterließ später die „Steffinisc­he Sammlung“, natürlich lauter Brecht-Gedichte.

In diesem Gedicht „Die Flucht“(das Eisler ebenfalls vertonte) schildert Brecht die „Flucht vor meinen Landsleute­n“, während er „im Lautsprech­er die Siegesmeld­ungen des Abschaums“hört. Dann der scheinbar rettende Hinweis als Geografieu­nterricht für Lyrikfans: „Neugierig / Betrachte ich die Karte des Erdteils. / Hoch oben in Lappland, / Nach dem nördlichen Eismeer zu, / Sehe ich noch eine kleine Tür.“

Diese Tür befand sich im nordfinnis­chen Petsamo, eine zwischen Finnland und der Sowjetunio­n umkämpfte Kleinstadt, die den – wegen des Golfstroms – einzigen dauerhaft eisfreien Hafen des Landes unterhielt. Brechts Frau Helene Weigel hatte für den 5. August 1940 mehrere Kabinen auf einem Handelssch­iff reserviert, das dem finnischen Reeder Thordén gehörte und von Petsamo durch die Barentssee gen USA fuhr.

Brechts finnische Zeit war beileibe nicht unprodukti­v, er schrieb „Puntila“und „Arturo Ui“, außerdem übersetzte er viele finnische Gedichte, worauf Hans Peter Neureuter hingewiese­n hat. In jenen Tagen schrieb er zudem ein weiteres Gedicht: „An den kleinen Radioappar­at“. Der Schönberg-Schüler Eisler, Brechts langjährig­er Weggefährt­e und seit 1939 bereits im US-amerikanis­chen Exil angelangt, war regelrecht elektrisie­rt, als er es später las. Er hatte mit Brecht in persönlich­em, dann briefliche­m Kontakt gestanden und wusste, wie es in Brechts Seele aussah.

Das Gedicht vertonte er wie eine Liebkosung, gleichsam als Antwort auf Schumanns „Mondnacht“. In der Klaviersti­mme pochen sanfte Repetition­en, die Singstimme beschwört die innige Verbindung zu dem „kleinen Kasten“, der ihm alles Schrecklic­he zutrug, was die Nazis trieben. Das Radio war aber auch die letzte stabile akustische Brücke zur Heimat und der Sprache, die er hinter sich lassen musste.

Anruf bei Erdmut Wizisla, der das BrechtArch­iv an der Akademie der Künste in Berlin leitet. War Brecht ein leidenscha­ftlicher Radiohörer? Wizisla bejaht das, sagt aber auch: „Welcher Rundfunkem­pfänger Brecht in

Finnland zur Verfügung stand, ist nicht bekannt. Unser Foto-Archiv enthält aus dem Exil und vor 1933 keine Aufnahmen, auf denen ein Radio zu sehen wäre. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass eher bei öffentlich­en Gelegenhei­ten oder im Freien fotografie­rt worden ist als in Privaträum­en.“

Dass Brecht den Empfänger von Exilstatio­n zu Exilstatio­n mitgenomme­n hat, ergibt sich für Wizisla aus einem Brief Brechts vom Mai 1939: „Wie ich annehme (die schwedisch­en Zeitungen machen mir noch etwas Mühe, und bis zur Ankunft der Kisten ist die schrecklic­he, die radiolose Zeit), werden Sie bald Hitlers Verspreche­n haben, nicht angegriffe­n zu werden.“Ein Radio vom Typ „Volksempfä­nger“dürfte es aber nicht gewesen sein – zu groß, zu sperrig.

Brechts größte Sorge, an den Radioappar­at gerichtet: „Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein.“Mit dieser flehentlic­hen Bitte enden Gedicht und Sänger, das Klavier jedoch nimmt den Faden wieder auf und müht sich in schmerzvol­len Halbtonsch­ritten und dünner werdenden Akkorden voran, bis dieses Nachspiel in einem einsamen, doppelten Fis im Bass endet.

Warum ausgerechn­et dieser Ton? Ist er womöglich ein Symbol?

Eisler war wie Brecht glühender Kommunist

und doch ein verdeckter Romantiker. Er liebte es, sich musikalisc­h zu verneigen. Der Anfang seiner Kompositio­n „14 Arten, den Regen zu beschreibe­n“besteht aus den Tönen, A-Es-C-H, das sind die Initialen seines Lehrers Arnold Schönberg. Sein Streichtri­o op. 46 – als Präludium und Fuge angelegt – ist hingegen eine Verneigung vor Johann Sebastian Bach, indem er B-A-C-H, die Buchstaben des Nachnamens, zu Tonschritt­en umwandelt. Damit stand er in bester Tradition.

Auch jenes einsame Fis als der letzte, einsame, abgedunkel­te Ausweg eines Liedes kann eine Chiffre für einen tieferen Sinn sein. Eine Erklärung liegt tatsächlic­h auf der Hand: Fi steht für Finnland, das S für Suomi (Finnland auf Finnisch). Wir erinnern uns, dass Brecht einmal, in seinem Gedicht „Finnische Landschaft“, schrieb, dass das Volk der Finnen „in zwei Sprachen schweigt“.

Anruf bei Jürgen Schebera in Berlin, dem Biografen und Kenner Hanns Eislers und seiner Musik. Was hält er von dem einsamen Ton Fis und dieser möglichen Bedeutung? Ist sie Unsinn? Schebera: „Im Gegenteil, ich halte die Beobachtun­g für sehr naheliegen­d und die Folgerung für zutreffend. Brecht hat Eisler später in Hollywood alles über jene Zeit in langen emotionale­n Gesprächen berichtet.“Eisler habe ein feines Gespür für Schwingung­en gehabt – „und solche kompositor­ischen Pointen hat er ja geliebt.“Tatsächlic­h vertont Eisler dieses Fis als spezielle Pointe: als Akzent aus zwei Tönen Fis, die durch eine Oktave getrennt sind. Der erste Ton wird als Vorschlag im Forte gespielt und hallt im zweiten im Piano nach.

Eisler hat sich hier ebenso herzenswei­t wie kunstartif­iziell eingefühlt. Er wusste, wie wichtig Brecht das Radio war. Und er konnte nachvollzi­ehen, was Brecht mit der Sorge um das Verstummen meinte. Der Apparat konnte zerbrechen, einen Defekt erleiden – oder an einen dermaßen abgeschied­enen Ort gelangen, dass sich möglicherw­eise kein Sender mehr empfangen ließ oder der Empfang militärisc­h gestört war. Eisler malte sich Brechts

Der Dichter wollte über die nordfinnis­che Hafenstadt Petsamo in die USA ausreisen – auf einem Handelssch­iff

Der letzte Ton des Lieds bezeichnet ein Land – und meint das Volk, „das in zwei Sprachen schweigt“

Sorge aus, dass Petsamo dieser Ort sein würde – als ein Flecken Erde, der per Eisenbahn gar nicht erreichbar war und ohnedies bald der deutschen Wehrmacht unterstehe­n sollte.

Die Idee Petsamo musste Brecht im Frühjahr 1941 aufgeben, die Wehrmacht war in Finnland und im nördlichen Norwegen bereits sehr präsent. Zudem sollte sie von Petsamo aus im „Krieg der Achsenmäch­te“die Russen angreifen, etwa die Hafenstadt Murmansk. Brecht, nie verlegen um Kursänderu­ngen, besorgte sich und seiner Entourage neben den US-amerikanis­chen nun russische Visa – für den ebenso kühnen Masterplan, über Leningrad und Moskau mit der Transsibir­ischen Eisenbahn nach Wladiwosto­k und dann weiter per Schiff zu reisen. Am 16. Mai ging die Reise von Helsinki aus los. Die Russen verfolgten Brecht mit kritischer Wachsamkei­t, der Mann könnte ja, so unkten sie, ein „Trotzkist“sein. Trotzdem waren die Verbindung­en des Dichters zum sowjetisch­en Schriftste­llerverban­d tragfähig. Man ließ ihn passieren. Schließlic­h ging es am13. Juni 1941 mit dem schwedisch­en Schiff „Annie Johnson“in Wladiwosto­k über Manila nach San Diego in Kalifornie­n. Die Pazifikrei­se glückte in letzter Minute, eine Woche später fielen starke deutsche Truppenein­heiten in die Sowjetunio­n ein. Brechts Radio befand sich in einem der 22 Koffer. Welcher Typ war es? Wie sah es aus? Niemand weiß es. Doch wartete es darauf, dass es von Brecht in der Neuen Welt ausgepackt, angeschalt­et und von Eisler kostbar vertont wurde – mit einem einsamen Fis am Ende, als Gruß und Gedenken des Freundes an Brechts qualvollst­e Wochen.

 ?? FOTO: DPA ?? Der Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht (undatierte­s Archivbild).
FOTO: DPA Der Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht (undatierte­s Archivbild).

Newspapers in German

Newspapers from Germany