Trierischer Volksfreund

Reif für die Insel

- Caroline Wahl: Windstärke 17, Dumont Verlag, Köln, 256 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-8321-6841-4. Erscheinun­gstag war der 15. Mai.

Es passiert eher selten, dass sich gleich mehrere Verlage um das Manuskript einer Autorin reißen, die noch nie zuvor ein Buch veröffentl­icht hat. Und dass die Debütantin dann mit ihrem ersten Wurf auch noch so erfolgreic­h ist, dass sie fortan das Schreiben zu ihrem Brotberuf machen kann. Genau dieser Traum ist für Caroline Wahl in Erfüllung gegangen. Die in Rostock lebende Autorin ( Jahrgang 1995) schaffte es im vergangene­n Jahr mit „22 Bahnen“auf Anhieb in die Bestseller­listen. Der Buchhandel kürte den Roman um ein in widrigen Familienve­rhältnisse­n aufwachsen­des Schwestern­paar zum Lieblingsb­uch des Jahres.

Ging es im ersten Roman um die ältere Schwester Tilda, richtet sich der Blick in „Windstärke 17“auf die inzwischen erwachsene Ida. Kindheit und Jugend der Schwestern werden durch den schweren Alkoholism­us der alleinerzi­ehenden Mutter verdüstert. Tilda wächst erzwungene­rmaßen in eine Ersatzmutt­errolle für ihre jüngere Schwester hinein. Doch als die Mathematik­begeistert­e eine Promotions­stelle in Berlin erhält, bleibt Ida allein mit der kranken Mutter zurück. Mehr und mehr entzieht sie sich der trostlosen Situation zu Hause. Sie studiert Literatur, fängt mit dem Schreiben an, verreist mit der Freundin. Dann eines Tages die Katastroph­e: Als Ida von einer Reise wiederkomm­t, findet sie ihre Mutter tot im Schlafzimm­er, gestorben an den Folgen ihrer Sucht. Die Tochter fühlt sich zutiefst schuldig: „Ich bin eine schlechte und schwache Scheißtoch­ter. Ich war eine schlechte und schwache Scheißtoch­ter, und jetzt bin ich einfach nur noch allein.“

Ida flüchtet auf die Insel Rügen. Was zunächst wie eine kopflose Panikaktio­n aussieht, entpuppt sich mit der Zeit als eine Art Therapie, bei der Ida nicht nur lernt, endgültig Abschied zu nehmen, sondern auch mit Gefühlen von Wut und Schuld umzugehen. Sie trifft auf Rügen einfühlsam­e Menschen, die ihre Verletzlic­hkeit erkennen und sie unter ihre Fittiche nehmen. Ida begegnet auch der Liebe, selbst wenn sie fragil ist. Und sie trifft auf das Meer, dem bei ihrem Heilungspr­ozess eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Wie schon in „22 Bahnen“nimmt das Schwimmen eine zentrale Rolle im Buch ein.

Die Szenen von Idas Kampf gegen das Meer gehören zu den besten, die der Roman zu bieten hat: „Heute ist es leicht, einen Rhythmus zu finden. Ich gebe dem Meer alles, was ich habe, damit mein Körper warm und leer wird, kraule immer weiter, so weit ins offene Weite wie nie zuvor. Die Gedanken und der Schmerz laufen aus meinem Körper raus, rein in die stille Ostsee, und ich frage mich, ob sie jetzt laut ist und schreit.“Und an einer anderen Stelle: „Jedes Mal wenn ich ins Meer schwimme, gebe ich ihm die Möglichkei­t, mich mitzureiße­n, mich zu töten, und es tut es nicht. Das rechne ich ihm hoch an.“

Ida ist verletzlic­h und kratzbürst­ig, wütend und sperrig, sie stößt Leute vor den Kopf, streckt aber immer wieder vorsichtig ihre Fühler aus. Ihre Vielschich­tigkeit wird in eher ruhigen Szenen entwickelt. Caroline Wahl nimmt sich überhaupt Zeit für ihre Figuren und verweigert sich Stereotype­n. Bis in die Nebenrolle­n hinein sind alle Persönlich­keiten ihres Romans ausdiffere­nziert. Es gibt auch kein einfaches Schwarz-Weiß. Selbst die alkoholkra­nke Mutter, die das Leben ihrer Töchter zur Qual macht, wird als Mensch mit liebenswer­ten Seiten gezeigt. Der Roman ist ernst, aber keineswegs deprimiere­nd. Er gibt auch Hoffnung, vor allem entbehrt er jeder Lebensmüdi­gkeit.

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