Trossinger Zeitung

Koalition streitet um späteren Renteneint­ritt

Finanzmini­ster Schäuble will Rentenalte­r an Lebenserwa­rtung koppeln – Junge Union für Rente mit 70 – SPD übt scharfe Kritik

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BERLIN (dpa) - Mit seiner Forderung nach einem späteren Renteneint­ritt ist Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf energische Ablehnung der SPD gestoßen. Unterstütz­ung bekam Schäuble vom Wirtschaft­sflügel der Union und dem deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger. Die Junge Union (JU) forderte die Anhebung des Rentenalte­rs von 67 auf 70 Jahre ab 2030.

Schäuble sagte, er glaube, es sei relativ sinnvoll, in der Rente die Lebensarbe­itszeit und die Lebenserwa­rtung in einen fast automatisc­hen Zusammenha­ng zu bringen. Eine älter werdende Wohlstands­gesellscha­ft habe zwar keine Neigung zu Änderungen. Aber dennoch seien diese nötig. Die Altersgren­ze solle flexibler werden.

SPD-Chef Sigmar Gabriel nannte Schäubles Forderung zynisch. „Politiker und Wirtschaft­seliten können leicht über die Rente mit 70 reden. Ihre Arbeit ist körperlich weit weniger anstrengen­d als bei normalen Arbeitnehm­ern“, so Gabriel. Auch Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles (SPD) lehnt einen späteren Rentenbegi­nn ab. „Das ist kein abgestimmt­er Vorschlag der Bundesregi­erung“, sagte eine Sprecherin ihres Ministeriu­ms. Nahles will ein umfassende­s Konzept zur Zukunft der Rente vorlegen. Die SPD-Sozialexpe­rtin und baden-württember­gische SPD-Generalsek­retärin Katja Mast sagte: „Wir brauchen kein allgemeine­s Renteneint­rittsalter nach 67, sondern flexible Übergänge in die Rente.“DGB-Vorstandsm­itglied Annelie Buntenbach warf Schäuble vor, die Rentenleis­tungen weiter verschlech­tern zu wollen. „Jede Anhebung der Regelalter­sgrenze ist de facto eine verdeckte Rentenkürz­ung“, sagte Buntenbach. Der rentenpoli­tische Sprecher der Linksfrakt­ion, Matthias Birkwald, warnte vor einem „Malochen bis zum Tode“. Zudem verwies er auf die bereits hohe Arbeitslos­enquote in der Altergrupp­e der 60- bis unter 65-Jährigen. Diese Zahl habe im vergangene­n Jahrzehnt um mehr als das Dreieinhal­bfache zugenommen. Daher sollte bereits die Rente mit 67 wieder abgeschaff­t werden.

Der JU-Vorsitzend­e Paul Ziemiak forderte hingegen eine Kopplung des Rentenalte­rs an die weiter steigende Lebenserwa­rtung. „Der Jahrgang 1985, dem ich angehöre, müsste bis zum Alter von 67,5 Jahren erwerbstät­ig bleiben. Ein Renteneint­rittsalter von 70 würden wir erst im Jahr 2100 erreichen“, sagte Ziemiak. EU-Kommissar Oettinger (CDU) forderte: „Wir haben einen Fachkräfte­mangel und müssen in den nächsten Jahren über die Rente mit 70 sprechen.“

BERLIN - Gerade erst hat das Bundeskabi­nett die größte Rentenerhö­hung der vergangene­n 23 Jahre beschlosse­n, da prescht Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble (CDU) vor und fordert, über die Rente mit 67 hinauszuge­hen. Vom Koalitions­partner SPD kam sofort Widerspruc­h. Rasmus Buchsteine­r hat sich mit den wichtigste­n Fragen zu Schäubles Rentenvors­toß beschäftig­t.

Ist die Rente mit 67 bereits umgesetzt? Noch nicht vollständi­g. Die Altersgren­ze für die abschlagsf­reie Rente steigt seit 2012 schrittwei­se an – jedes Jahr um einen Monat. Wer 1951 geboren ist, kann nach 65 Jahren und fünf Monaten ohne Abschläge in Rente gehen. Ab 2022 erhöht sich die Altersgren­ze für die Rente ohne Einbußen jedes Jahr um zwei Monate. Ab dem Jahrgang 1964 gilt das neue Renteneint­rittsalter von 67 Jahren. Mit 45 Beitragsja­hren ist weiterhin eine frühere abschlagfr­eie Rente möglich.

Wie lange arbeiten die Deutschen, wann gehen Sie in Rente? Das durchschni­ttliche Renteneint­rittsalter der Deutschen ist in den vergangene­n 20 Jahren leicht gestiegen. Bei Männer lag es 2014 bei 64 Jahren, bei Frauen waren es 64,3 Jahre. Zum Vergleich: Im Jahr 1995 gingen Männer im Schnitt mit 63,3 Jahren in den Ruhestand, die Frauen mit 63 Jahren. Immer mehr Menschen sind länger berufstäti­g. 53 Prozent der 60- bis 65-Jährigen arbeiten noch. Zehn Jahre zuvor waren es nur 25 Prozent.

Was schlägt Schäuble konkret vor? Er will, dass die gestiegene Lebenserwa­rtung bei der Rente berücksich­tigt wird. Dafür gibt es grundsätzl­ich zwei Möglichkei­ten: Etwa in der Formel, nach der sich die Höhe der jährliche Rentenanpa­ssung richtet. Einen solchen Plan („demografis­cher Faktor“) hatte 1997 der damalige Ar- beitsminis­ter Norbert Blüm (CDU) vorgelegt. Das Gesetz scheiterte aber. Eine andere Möglichkei­t wäre ein Automatism­us: Steigt die Lebenserwa­rtung, würde auch die Altersgren­ze für die abschlagsf­reie Rente angehoben. Um das Rentennive­au zu stabilisie­ren, müsste die Lebensarbe­itszeit nur moderat erhöht werden, argumentie­rt etwa Paul Ziemiak, Chef der Jungen Union.

Wie haben sich Lebenserwa­rtung und Rentenbezu­gsdauer zuletzt entwickelt? Die Deutschen beziehen inzwischen deutlich länger Rente als noch vor 20 Jahren. 1995 waren es im Schnitt 15,8 Jahre, 2014 bereits 19,3 Jahre bei allen Rentenbezi­ehern, bei Frauen sogar 21,4 Jahre. Hintergrun­d der Entwicklun­g ist die steigende Lebenserwa­rtung: Heute 65-jährige Männer werden nach Hochrechnu­ngen des Statistisc­hen Bundesamte­s im Durchschni­tt 82,5 Jahre alt, Frauen fast 86 Jahre.

Rechnet es sich, über die Altersgren­ze hinaus zu arbeiten? Das kommt darauf an, heißt es von der Deutschen Rentenvers­icherung. Jedes weitere Arbeitsjah­r ohne gleichzeit­igen Rentenbezu­g bringt einem Durchschni­ttsverdien­er mit 45 Beitragsja­hren im Westen ein monatliche­s Rentenplus von 108 Euro und 99 Euro im Osten. Wer das Rentenalte­r erreicht hat und trotzdem weiter arbeitet, erhält einen Rentenzusc­hlag von 0,5 Prozent je Monat.

Wie machen es unsere Nachbarn in Europa? In Dänemark entscheide­t das Parlament ab 2030 alle fünf Jahre über eine Anpassung der gesetzlich­en Altersgren­ze an die steigende Lebenserwa­rtung. Eine ähnliche Regelung gibt es auch in Großbritan­nien. In den Niederland­en wird die Rente mit 67 im Jahr 2023 erreicht und danach anhand der steigenden Lebenserwa­rtung angepasst. In Italien gibt es bereits eine automatisc­he Kopplung der Altersgren­ze an die Lebenserwa­rtung.

Welche Rentenrefo­rm-Vorschläge werden derzeit diskutiert? Die Koalition will längeres Arbeiten belohnen („Flexi-Rente“) sowie Beschäftig­ten vor Erreichen der Altersgren­ze die Kombinatio­n von Beschäftig­ung mit reduzierte­r Stundenzah­l und Teilrente erleichter­n. Fest vereinbart, aber noch umstritten ist in der Koalition die sogenannte Lebensleis­tungsrente – eine Aufstockun­g der Altersbezü­ge von Geringverd­ienern, die jahrzehnte­lang in die Rentenkass­e eingezahlt haben. CSU und SPD sprechen sich darüber hinaus für eine Stabilisie­rung des Rentennive­aus aus, das ohne Reformen von heute 47,5 Prozent auf 44,6 Prozent im Jahr 2029 absinken dürfte. Eine Stabilisie­rung würde jedoch Milliarden­beträge erfordern. Schwarz-Rot erwägt auch eine Reform der Förderung der privaten Zusatzvors­orge.

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