Trossinger Zeitung

Von Brüdern, Schwestern, Mehlsäcken und Medizinern

- Von Jürgen Schattmann

Die Spiele in Rio strotzen geradezu vor Geschichte­n über Brüder und Schwestern, offenbar scheinen Gene wichtig für so einen Körper zu sein. Die Ungewöhnli­chste war die über die estnischen Marathon-Drillinge Liina, Lily und Leila Luik, 30 Jahre jung, die derart identisch aussehen, dass jeder Molekularb­iologe aus Riga, Fachrichtu­ng Klonen, vor Neid erblassen dürfte. Beste des Trios war als 97. Lily, aber vielleicht war es auch Leila, wer weiß. Liina war es definitiv nicht, denn die stieg aus. Im Ziel feierten die Drei Arm in Arm mit den deutschen Hahner-Schwestern Lisa (81.) und Anna (82.), die danach Stress mit dem DLV und DOSB bekamen – zu Recht. Wer nach 2:45 Stunden lächelnd Hand in Hand und immer noch gut frisiert ins Ziel läuft mit einem dicken Extragrins­en für die deutsche Medienland­schaft, der hat wirklich etwas nicht verstanden. Dass das Leben kein Favelaspaz­iergang ist und ein olympische­r Marathon kein Laufsteg, das zum Beispiel.

Vielleicht wollten die Hahners, die 40 Prozent einer Fünflingsg­eburt bilden, nur zeigen, dass sie im Leben nichts mehr auseinande­rdividiere­n kann. Vielleicht wurde die Aktion auch klammheiml­ich vom Bundesfami­lienminist­erium gesponsert, und die Hahners wollten für eine höhere Kinderquot­e im Land werben. Vielleicht sind sie auch schwer traumatisi­ert, bei ihrer Entbindung waren sie ja einmal für 16 Minuten getrennt, weil eine früher kommen musste. Man weiß es nicht.

Man weiß nur, dass Brüder irgendwie sportliche­r auftreten bei diesen Spielen, allen voran zwei Triathlete­n aus der Fußballnat­ion Wales: Alistair Brownlee (28) holte wie in London Gold, Jonathan (26) verbessert­e sich um einen Rang und holte Silber. Das hätten auch die Harting-Brüder schaffen können, doch weil sich der eine, Robert, dafür entschied, anstrengen­de Haushaltst­ätigkeiten wie das Licht auszuschal­ten auf die naheliegen­dste Art zu erledigen, mit dem Fuß nämlich, wurde nichts aus dem Doppelsieg. Robert erlitt einen Hexenschus­s, Christoph irgendwie auch: Er holte Gold und machte danach einen auf Fasnet.

Die feiern die Borlée-Geschwiste­r aus Belgien gerade ebenfalls. Die Zwillingsb­rüder Kevin und Jonathan (28) sowie Dylan (23) bilden drei Viertel der 4x400-Meter-Staffel unserer Nachbarn, kürzlich in Amsterdam wurden sie Europameis­ter. Ihre große Schwester Olivia hat noch mehr Grund zu feiern. Die 30-Jährige war Fahnenträg­erin der Belgier, seit ein paar Tagen ist sie auch Olympiasie­gerin, auch wenn die Siegerehru­ng leichte Verspätung hat. Russlands Sprintstaf­fel bekam ihr Gold von 2008 wegen Dopings aberkannt, die Belgierinn­en rückten nach. Trainer der vier ist übrigens Vater Jacques, ein – wen wundert’s – ehemaliger Starsprint­er.

Die Eltern von Selin (19) und Timur Oruz (21) – die ersten deutschen Hockey-Nationalsp­ieler mit türkischen Wurzeln – sind überrasche­nderweise keine Supersport­ler. Der Vater kam mit zehn Jahren aus Istanbul nach Deutschlan­d und lernte im Medizinstu­dium die deutsche Mutter kennen. „Zu meinem Mann hat der Sportlehre­r immer gesagt, er sei ein Mehlsack“, erzählt die Mutter beim Frühstück – beide sind im Hotel des „SZ“-Manns und hatten in Rio mächtig zu tun. An einem Tag spielte die Tochter, am nächsten der Sohn, die Mutter sagt: „Langweilig ist uns nie geworden.“Grund zu feiern hatten sie auch: Beide Sprössling­e holten Bronze. Nicht im Sport, sondern beruflich wollen die Kinder in die Fußstapfen der Eltern treten: Selin studiert in Düsseldorf Medizin, Timur wäre auch gerne Arzt geworden, bekam aber keinen Studienpla­tz und will nun einen anderen medizinisc­hen Beruf ergreifen.

Überhaupt geht es sehr familiär zu im deutschen Hockey. Auch Mats und Tom Grambusch sind Geschwiste­r, Tobias und Franzisca Hauke ebenso. Tobias, 2008 und 2012 Olympiasie­ger, sagt, er habe es genossen, im Dorf erstmals eine Schwester zu haben, also jemanden, „mit dem man mal über andere Dinge als nur coole Jungs-Themen reden kann. Das ist wichtig.“Das findet der „SZ“-Mann auch. Da grad keine Geschwiste­r zur Stelle sind, gehe ich seit zwei Wochen jeden Tag in den Vorgarten der Presbyteri­anischen Kirche, die direkt im Schatten der Hochhäuser vor unserem Hotel steht. Es gibt viele Brüder und Schwestern dort, und es scheint der einzige besinnlich­e Ort in dieser City of God zu sein.

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FOTO: DPA Das „Who is Who“des estnischen Marathons: Liina, Lily und Leila Luik (von links).
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