Das Glaubwürdigkeitsproblem des Sports wird größer
Bei den Spielen in Rio vergeht kaum ein Tag ohne Negativschlagzeilen – Doping ist allgegenwärtig
RIO DE JANEIRO (SID) - Das Chaos um die Teilnahme Russlands, tiefe Gräben zwischen den Sportlern und haarsträubende Skandale: Das Thema Doping war so allgegenwärtig wie vielleicht noch nie zuvor bei Olympischen Spielen. Experte Fritz Sörgel glaubt sogar, dass in Rio ein neues Zeitalter im Umgang mit dem Thema angebrochen ist. „Die Dopingwelt ist nicht mehr so, wie sie noch vor ein paar Monaten war. Alle Schranken fallen“, sagte Sörgel.
Der Nürnberger Pharmakologe verweist auf Sportler und Trainer, die konkrete Verdachtsmomente gegen ihre Kollegen äußern. „Der Gewichtheber-Trainer nennt die Dinge beim Namen, Radfahrerin Christina Vogel macht sich Gedanken über England – und Sun Yang ,pinkelt lila‘“, sagte Sörgel mit Blick auf den Spruch, mit dem der Schwimmer Camille Lacourt (Frankreich) seinen chinesischen Kollegen attackiert hatte. „Man darf davon ausgehen“, meint Sörgel, „dass nacholympisch das Thema Doping weiter an Fahrt gewinnen wird.“Es werde zu „einer Art Kulturkampf kommen zwischen West und Ost, also das, was wir schon mal im Kalten Krieg hatten.“
Zwölf Rio-Athleten wurden bis Freitag erwischt, immerhin zwei Medaillengewinner. In London waren es zunächst sechs offizielle Fälle gewesen – alles kleine Fische. Trotzdem gab es in Rio nichts zu feiern. Unter dem Brennglas des größten Sportereignisses der Welt trat das Glaubwürdigkeitsproblem des Sports offen zutage. Und es stellt das IOC vor massive Probleme.
„Das Dopingthema liegt wie eine dunkle Wolke über den Olympischen Spielen“, hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière zu Beginn erklärt. Fast kein Tag in Rio verging ohne Negativschlagzeilen.
Brasilien soll auf Anordnung des Sportministeriums einen Monat vor den Spielen die Dopingkontrollen eingestellt haben. Die russische ExDoperin Julia Jefimowa klagte ihren Start ein, wurde dann in der Schwimmhalle vom Publikum ausgepfiffen und von ihren Konkurrentinnen geächtet. Ein kenianischer Leichtathletikfunktionär musste die Heimreise antreten, weil er dabei gefilmt worden war, wie er gegen eine Zahlung von 10 000 Pfund anbot, Termine von Kontrollen zu verraten. Die Wettbewerbe der Gewichtheber verkamen zur Farce. Reihenweise wurden Medaillen an ehemalige Doper verteilt. Wie lange sie diese behalten dürfen? Fraglich. 31 (!) Nachtests von Proben aus Peking und London fielen positiv aus. Bis jetzt.
Bisher sind zwei Nationen, Bulgarien und Russland, vom Weltverband ausgeschlossen worden. Weitere sollen folgen. Allerdings erst nach Olympia.
Auch in anderen Sportarten erregten Leistungen Misstrauen – speziell in den Kernsportarten Schwimmen und Leichtathletik. Die Äthiopierin Almaz Ayana pulverisierte den 23 Jahre alten 10 000-MeterWeltrekord der Chinesin Wang Junxia um mehr als 14 Sekunden. „Mein Training und Jesus sind mein Doping und sonst nichts“, sagte Ayana.
Die Zulassung des Großteils der russischen Olympiamannschaft war der härteste Schlag in die Magengrube der Dopingjäger. Schon jetzt fordern die deutschen und österreichischen Anti-Doping-Agenturen den Ausschluss Russlands von den Winterspielen 2018. Klar ist: Der weltweite Anti-Doping-Kampf muss völlig neu organisiert werden. Das IOC und die Welt-Anti-DopingAgentur WADA schieben sich den Schwarzen Peter hin und her.
Dass künftig mehr Whistleblower Dopingpraktiken öffentlich machen werden, ist unwahrscheinlich. Das IOC verweigerte den Olympiastart Julia Stepanowas mit einer fadenscheinigen Begründung – ein Tiefschlag für die wichtigste DopingKronzeugin der Geschichte. Und ein PR-Desaster für das IOC.