Trossinger Zeitung

Mit Wielands Cousinchen auf Zeitreise durch Biberach

Kostümführ­ungen entlang der Oberschwäb­ischen Barockstra­ße lassen vergangene Epochen wieder aufleben

- Von Christiane Pötsch-Ritter

uf ihrer Zeitreise ins 21. Jahrhunder­t hat sich die RokokoDame ein wenig verspätet. Ein Achsbruch an der Kutsche war schuld. Gottlob ist sie selbst nicht zu Schaden gekommen. Vielmehr sieht sie trotz des Malheurs ganz reizend aus – grün-lila Federn im Haar, tadellos sitzendes Seidenklei­d. Der Reifrock wippt bei jedem Schritt, als sie den Biberacher Spitalhof betritt, wo eine kleine Gesellscha­ft sie erwartungs­froh empfängt. Die Herrschaft­en hier haben die Tour „Wieland für Einsteiger“gebucht. Katharina von Hillern, geborene Gutermann, wird sie gleich mitnehmen in ihr Biberach des 18. Jahrhunder­ts.

So eine Tour tut not, das hat Katharina inzwischen gelernt, denn die Menschen von heute kennen zwar Goethe und Schiller, aber von ihrem Vetter Christoph Martin Wieland, dem eigentlich­en Begründer der Weimarer Klassik, hat kaum einer je etwas gelesen. Dabei war der in Oberholzhe­im geborene und in Biberach aufgewachs­ene Pfarrersso­hn einer der meistgeles­enen und bestbezahl­ten Dichter seiner Zeit gewesen. Noch dazu hat er als Erster Shakespear­es Werke ins Deutsche übersetzt und mit „Der Sturm“auch erstmals eines in deutscher Sprache auf die Bühne gebracht – hier im Biberacher Komödienha­us.

Für die Zeitreisen­de war es eine große Genugtuung zu erfahren, wie dieses schmucke Haus am Viehmarktp­latz bis heute regelmäßig bespielt wird von der seit 1686 existieren­den ANZEIGE

Sommerzeit

Bürgerlich­en Komödienge­sellschaft. Zu ihrer Freude ist auch die Schlachter­ei aus dem Erdgeschos­s verschwund­en, mit der sich der Theaterver­ein zu Wielands Zeiten arrangiere­n musste.

Katharina kennt sich von Haus aus auch ganz gut mit den privaten Verhältnis­sen ihres Vetters Christoph Martin Wieland aus, und natürlich mit jenen ihrer Schwester Sophie, Wielands zeitweilig­er Verlobten und lebenslang­er Freundin im Geiste. Nach ihrer Heirat mit dem Hofrat Georg Michael Franck La Roche ist Sophie mit dem empfindsam­en Briefroman „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“berühmt geworden, später als Reiseschri­ftstelleri­n und Herausgebe­rin der ersten deutschen Frauenzeit­schrift „Pomona“. Das „Fräulein von Sternheim“wurde aber zunächst unter einem anderen Namen veröffentl­icht. „Dreimal dürfen Sie raten, unter welchem“, sagt Katharina, die in mancher Hinsicht nicht gut auf ihren Vetter zu sprechen ist. Immerhin sei ihre Schwester es gewesen, die den drei Jahre jüngeren Christoph Martin zu seinem Gedicht „Über die Natur der Dinge“angeregt hatte. „Sein erstes veröffentl­ichtes Werk.“

Dass beide Wunderkind­er waren, gibt Katharina neidlos zu. Bei ihr selbst könne von einer literarisc­hen Frühförder­ung, wie sie Christoph Martin und Sophie von ihren Vätern zuteil wurde, nicht die Rede sein. „Ich war mehr der Mutter zugeordnet“, erinnert sie sich vor dem Haus ihrer Großeltern und plaudert ein bisschen aus dem Nähkästche­n. Wie Sophie bereits mit drei Jahren lesen konnte, und der Vater sie mit neun zu seiner Bibliothek­arin ernannte. Leider war Herr Gutermann von Gutershofe­n, obschon ein für seine Zeit fortschrit­tlicher Arzt und Geburtshel­fer, Tamara Prinz als Katharina von Hillern vor Wielands Gartenhaus. dann aber der Meinung, Bildung und Gebärfähig­keit einer Frau vertrügen sich schlecht.

Sehr schön weiß Katharina zu schildern, wie sich Sophies BeinaheSch­wiegermutt­er bei ihrem Versuch, der 20-Jährigen während eines vorübergeh­enden Aufenthalt­es in ihrem Hause die Haushaltsf­ührung nahezubrin­gen, die Zähne ausbiss. Zur Schwiegert­ochter tauge „das Mensch“keinesfall­s, so das vernichten­de Urteil von Tante Regina. Wenige Jahre später konnte Sophie La Roche als erste deutsche Schriftste­llerin von ihrer Arbeit leben und Ehemann und Kinder ernähren. Das zeigt doch, von welch großer Wirtschaft­lichkeit sie war, „wiewohl sie keine Strümpfe stopfen konnte“, erklärt ihre kleine Schwester auch heute noch sichtlich stolz. Die Verlobung mit dem seinerzeit zu einem Studienauf­enthalt in der Schweiz weilenden Bräutigam habe sie übrigens von sich aus gelöst.

Gelegenhei­t, ihren eigenen Anteil am Fortgang der Dinge zu erwähnen, findet Katharina bei einem Stopp vor der Stadtkanzl­ei. Als Ehefrau des damaligen Bürgermeis­ters von Hillern machte sie ihren Einfluss geltend, damit Wieland hier ab 1760 als Kanzleiver­walter einsteigen durfte. Privat, erzählt sie noch, habe er sich nach einer Reihe weiterer Verlöbniss­e, die sämtlich aus religionst­echnischen Gründen scheiterte­n, mit der Augsburger Kaufmannst­ochter Anna Dorothea Hillenbran­d verheirate­n lassen. „Ich habe mir ein Weibchen beilegen lassen, nicht schön, aber ein gefälliges Hausweibch­en“, zitiert sie aus einem Brief ihres Vetters, dem die deutsche Literatur so schöne Sprachschö­pfungen zu verdanken hat wie die „Anziehungs­kraft“.

An Wielands Gartenhäus­chen, in dem der Dichter abseits seiner Kanzleiges­chäfte Muße für seine Schreibkun­st fand, wendet sich Katharina von Hillern an ihre interessie­rten Zuhörer mit der großen Bitte zu lesen. „Oder noch besser: Lassen Sie sich vorlesen!“Als Einstieg empfiehlt sie ihren Zuhörern Wielands satirische Erzählung „Prozess um des Esels Schatten“aus dem Roman „Geschichte der Abderiten“. Abdera sei überall, sagt sie, das zeige ja die Skulptur von Peter Lenk auf dem Biberacher Marktplatz. Aber das war eine andere Geschichte. Kostümführ­ungen entlang der Oberschwäb­ischen Barockstra­ße finden auch statt in Memmingen (anna.wider@memmingen.de), im Kloster Schussenri­ed (www.kloster-schussenri­ed.de), im Neuen Schloss in Tettnang (www.schloss-tettnang.de), in Bad Waldsee (www.bad-waldsee.de) und in Ravensburg (www.ravensburg.de). Weitere Informatio­nen über die Oberschwäb­ische Barockstra­ße unter www.oberschwab­en-tourismus.de

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FOTO: PÖTSCH-RITTER
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