„Er wollte einmal ein starker Mann sein“
Marcus Vetter über den Fall Söring und seinen neuen Dokumentarfilm
BERLIN - Lynchburg, Virginia, 1985. Das Ehepaar Nancy und Derek Haysom wird brutal ermordet. In den Fokus der Ermittler gerät die Tochter der Opfer, die Cambridge-Studentin Elizabeth Roxanne Haysom. Jens Söring, 18 Jahre alt, Sohn eines deutschen Diplomaten und hochbegabter Student, ist seit einiger Zeit mit der jungen Frau zusammen, die ihm in jeder Hinsicht überlegen ist. Nach einer abenteuerlichen Flucht wird das Paar gefasst. Söring nimmt die Tat auf sich, wird in die USA ausgeliefert und zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Beweise gegen ihn gibt es nicht, der Richter war mit den Mordopfern befreundet und ein entlastendes Gutachten bleibt spurlos verschwunden. Der Stuttgarter Filmemacher Marcus Vetter hat den Fall gemeinsam mit Karin Steinberger in dem Dokumentarfilm „Das Versprechen – Erste Liebe lebenslänglich“, der nun in den Kinos startet, nachgezeichnet. André Wesche hat sich in Berlin mit ihm unterhalten. Herr Vetter, warum sind Menschen so fasziniert von Geschichten über Mord und Totschlag? Das frage ich mich auch. Interessanterweise hat mich diese Tatsache zunächst von diesem Fall abgeschreckt. Ich habe gemeinsam mit Karin Steinberger bereits den Film „Hunger“gemacht. Bei diesem Dreh 2009 hat sie mir von Jens erzählt. Sie hat ihn dann kurz vor seiner geplanten Überführung nach Deutschland getroffen. Der scheidende Gouverneur von Virginia, Timothy M. Kaine, hatte Jens am 12. Januar 2010 begnadigt, der neue, republikanische Gouverneur Robert F. McDonnell hat diese Begnadigung am 19. Januar sofort wieder zurückgenommen. Man muss sich das mal vorstellen. Jens war nach 24 Jahren im Gefängnis gedanklich schon in der Freiheit. Und dann wird ihm diese Freiheit wieder genommen. Wie ging es dann weiter? Als wir vor drei Jahren gemeinsam „The Forecaster“gedreht haben, erzählte mir Karin wieder von Jens und fragte, ob wir ihn nicht mal im Gefängnis besuchen sollten. Ich habe mich darauf eingelassen. Es ist ein viereinhalbstündiges Interview entstanden und nach diesem Gespräch war mir klar, dass wir die Geschichte unbedingt machen müssen. Wir hatten ein kleines, sehr junges Team dabei. Und die waren alle wie „geflashed“von dieser Geschichte – weil es eben auch eine Liebesgeschichte ist. Ich habe erkannt, dass man hier endlich mal Protagonisten hat, mit denen sich auch ein junges Publikum identifizieren kann. War es schwierig, an Jens Söring heranzukommen? Für Karin war das erste Interview gar kein Problem. Sie kennt das Procedere und sie hatte ihn schon mehrmals besucht. Es hat immer funktioniert. Komischerweise war unser Interview das letzte, das wir mit der Kamera machen konnten. Jens sitzt in einem Level 3-Gefängnis wie Elizabeth auch. Unser Interview war das letzte, für das ein Kamerateam in einem solchen Gefängnis zugelassen wurde. Das ist auch der Grund, warum wir Elizabeth nicht interviewen konnten. Sie wäre zu einem Gespräch bereit gewesen? Sie wäre an einem ganz bestimmten Punkt dazu bereit gewesen, mit einem Lügendetektor mit uns zu sprechen. Dann hat sie es aber wieder zurückgenommen. Für mich hat es auch ein großes Geheimnis, dass Elizabeth schweigt. Sie hat zweimal gesprochen. Einmal, kurz bevor Jens überführt werden sollte. Und ein zweites Mal vor wenigen Wochen. Sie hat zum ersten Mal zugegeben, dass sie von ihrer Mutter acht Jahre lang sexuell missbraucht wurde und damit auch, dass sie vor Gericht gelogen hat. Meines Erachtens war der Deal, dass der sexuelle Missbrauch unter den Tisch gekehrt wird, um den Namen der Mutter reinzuwaschen. Sexuellen Missbrauch durfte es im Bedford County nicht geben. Und der zuständige Richter war ausgerechnet mit dieser Mutter befreundet. Jeder Zuschauer wird sich ein anderes Bild von Söring machen. Wie sieht Ihr ganz persönliches aus? Karin Steinberger hat ein ganz enges Verhältnis zu ihm. Ich habe ihn nur dieses eine Mal getroffen und mich absichtlich komplett distanziert. Natürlich kenne ich ihn viel besser als er mich. Nachdem der Rohschnitt des Filmes fertig war, habe ich mir noch einmal das komplette Interview am Stück angeschaut. Und das war sehr erhellend. Man hat als Filmemacher sein Interview und seine Szenen, man baut und stückelt und macht. Irgendwann schafft man so auch seine eigene Welt aus Versatzstücken. Ich wollte überprüfen, ob ich Jens Söring überhaupt gerecht geworden bin. Als ich mir das Interview noch einmal anschaute, ist er mir sehr ans Herz gewachsen. Inwiefern? Ich habe viele Dinge anders gesehen und viel besser verstanden. Es hat mir unendlich leidgetan, wie sehr er um sein Leben geredet hat. Das fand ich zutiefst ehrlich. Er wollte jeden Punkt setzen und ganz genau sein. Dieses Gespräch und sein Newsletter sind ja die einzigen Chancen, ihn kennenzulernen. Da ist dieser völlig verworrene Fall, den man wohl nur verstehen kann, wenn man sich in einen Jugendlichen hineinversetzt. Ein Jugendlicher, der zum ersten Mal in der großen, weiten Welt ist, der sich zum ersten Mal verliebt und dann in eine Frau, die wohl viel zu groß für ihn ist, die ihn an der Nase herumführt. Er hat mitgemacht, weil er ihr imponieren wollte. Er wollte einmal ein starker Mann sein. Jens und Elizabeth haben zusammen Shakespeare gelesen und sich Vorbilder genommen. So, wie man als Jugendlicher eben ist, wenn man sich von seinen Eltern distanziert und deren Leben zu spießig findet – weil man noch gar nicht verstehen kann, wie schnell man selbst in dieses spießige Leben verfällt. Es ging Jens darum, eine Haltung zu wahren. Deshalb hat er auch das Versprechen gegeben. Und das musste er halten, es ging nicht anders. War es nicht diese Haltung, die ihm dann im Prozess das Genick gebrochen hat? Ja. Sie wurde ihm als arrogant ausgelegt. Der Staatsanwalt hatte sein Problem mit Jens, weil er keine Miene verzogen hat. Ich glaube, er wollte nur gerecht sein. Er wollte nicht alles kommentieren, was Elizabeth gesagt hat. Er hat es unkommentiert gelassen, was ich eigentlich als Größe empfinde. Er hat auch nicht auf die Tränendrüse gedrückt, während Elizabeth jedes Mittel recht war, um Wirkung zu erzielen. Er war in solchen Dingen völlig ungeübt. Ja, er hat einen riesigen Fehler gemacht und den kann man auch nicht ignorieren. Er hätte zur Polizei gehen müssen, aber er hat es nicht gemacht, und dafür sitzt er jetzt schon seit dreißig Jahren. Es gibt keine DNA von Jens am Tatort. Aber es gibt eine andere DNA-Spur, die weder ihm noch Elizabeth gehört. Schon deshalb kann die Geschichte des Staatsanwalts einfach nicht stimmen. Das Versprechen – Erste Liebe lebenslänglich. Regie: Marcus Vetter und Karin Steinberger. Deutschland 2016. 118 Minuten. FSK ab 12.