Vom Menschen lernen, heißt fliegen lernen
Der Waldrapp war in Mitteleuropa ausgerottet – Jetzt bringen Artenschützer ihm bei, was es heißt, ein Zugvogel zu sein
ÜBERLINGEN - Den Ägyptern galt der Waldrapp als Lichtbringer und Verkörperung des menschlichen Geistes. Die Menschen im Mittelalter sahen in ihm eine Delikatesse. Und seit der Frühen Neuzeit war er in Mitteleuropa ausgerottet. Jetzt versuchen Artenschützer in einem aufwendigen Programm, den gänsegroßen Vogel aus der Familie der Ibisse hierzulande wieder heimisch zu machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine Wiese nahe Überlingen.
Zwei Wohnwagen, zwei Zeltbauten, eine mobile Voliere: Das ist in diesen Wochen das Zuhause von Anne-Gabriela Schmalstieg und Corinna Esterer. Und von 31 Jungvögeln. Die Waldrappe sind vor zwei Monaten in einem Kärntner Tierpark geschlüpft, in Überlingen flügge geworden und mittlerweile fast ausgewachsen. Im Bodenseehinterland werden sie nun von ihren Ziehmüttern – die eine gelernte Landschaftsentwicklerin aus Niedersachsen, die andere Umweltingenieurin aus Oberbayern – auf ein Leben in der Wildnis vorbereitet. „Wir sind stundenlang bei den Vögeln“, sagt Esterer. „Eigentlich den ganzen Tag.“ Grüßen, streicheln, schmusen Wenn die beiden Frauen die Voliere betreten, tragen sie stets den gleichen zitronengelben Kapuzenpulli. Das zuvor leise Zwitschern der Jungvögel schwillt dann deutlich an. Schmalstieg und Esterer breiten eine Decke aus, setzen sich im Schneidersitz darauf, und schon kommen ihre Schützlinge an. Die Tiere lassen sich das Gefieder streicheln oder setzen sich auf Schulter und Kopf ihrer Ziehmütter, die die Tiere namentlich als „Einstein“, „Kopernikus“oder „Corleone“begrüßen. Ein besonders vorwitziger Waldrapp stochert mit seinem langen, gebogenen Schnabel am Hals von Anne-Gabriela Schmalstieg herum.
Der Waldrapp, lateinisch Geronticus Eremita, gilt gemeinhin als komischer Vogel, zumindest jedenfalls nicht gerade als Schönling. Das mag daran liegen, dass das ausgewachsene Tier eine Glatze hat und seltsam aufgebauschte Schopffedern, die seinen kahlen Schädel wie der Federschmuck eines Indianerhäuptlings umrahmen. „Sie sind schon sehr speziell“, räumt Corinna Esterer ein. „Aber sie haben einen starken Charakter, und der Charakter macht sie schön.“Und individuell, wie die 30-Jährige und ihre drei Jahre jüngere Kollegin berichten: Der eine Waldrapp ist eher neugierig, der zweite verschmust, der dritte vorsichtig. Ein Geschwistertrio hat besonders strahlend blaue Augen, ein anderer eine auffällig krächzende Stimme. Und einer liebt es offenbar, sich hinter seine menschliche Ziehmutter zu stellen und darauf zu warten, dass sie ihn entdeckt. Überwintern in der Toskana Was in Überlingen erst in den Anfängen steckt, wurde im österreichischen Kuchl bei Salzburg und in Burghausen am Inn bereits umgesetzt: Dorthin ziehen jetzt wieder in jedem Sommer wild lebende Waldrappe zum Brüten. Als vierter Standort kommt die Lagune von Orbetello hinzu, ein Naturschutzgebiet in der südlichen Toskana. Sie dient den Vögeln aus dem Salzburger Land, aus Oberbayern und künftig auch vom Bodensee als gemeinsames Überwinterungsgebiet.
Der Ideengeber des Projekts ist Johannes Fritz. Der Verhaltensbiologe aus Österreich hat das Waldrappteam gegründet, das von der Europäischen Union und weiteren Geldgebern finanziert wird. Ziel ist es, bis 2019 insgesamt 120 Waldrappe auszuwildern, erklärt Fritz. Die Zahl gilt als Minimalgröße einer überlebensfähigen Population – es wäre die einzige ihrer Art weltweit. Zwar gibt es noch jeweils eine Gruppe in Spanien und in Marokko, aber die Tiere dort bleiben ganzjährig in ihren Brutgebieten. Das Zugvogeldasein haben sie verlernt.
Der Waldrapp hat nämlich gegenüber anderen Zugvögeln einen Nachteil: Ihm liegt, anders als beispielsweise dem Storch, der alljährliche Abflug in den Süden nicht in den Genen. Er will zwar aufbrechen, weiß aber nicht wohin. Das müssen ihm erfahrene Artgenossen erst beibringen. Nur dass es die im Fall des Waldrapps in Überlingen nicht gibt. Deswegen werden Anne-Gabriela Schmalstieg und Corinna Esterer diese Aufgabe übernehmen. Sie werden Mitte oder Ende August in den Süden fliegen, in offenen Ultraleichtfliegern und mit ihren zitronengelben Kapuzenpullis. Und die Jungvögel werden ihnen folgen, bis in die Toskana.
„Das ist schon ein Erlebnis“, berichtet Anne-Gabriela Schmalstieg während einer Kaffeepause außerhalb der Voliere. „In einem Fluggerät zu sitzen und zu wissen, die Vögel fliegen deswegen mit, weil man selber dabei ist.“Die 27-Jährige steht vor ihrem vierten Vogelzug über die Alpen. Dreimal ist sie mit Jungtieren aus den anderen beiden Brutgebieten nach Orbetello geflogen. Während des Flugs, erzählt die Waldrapp„Mutter“, hätten manche Vögel sogar gegrüßt, mit einer angedeuteten Kopfbewegung, die sie schon aus der Voliere kennt. Mittlerweile finden die Tiere aus Kuchl und Burghausen ihren Weg alleine; es gibt jetzt erfahrene Zugvögel, denen die Jungtiere folgen. In Überlingen beginnt diese Entwicklung nun erst mit dem Anlernen der ersten Waldrapp-Generation. Zunächst sind die beiden Ziehmütter aber erst einmal dabei, die Tiere an ihr künftiges Begleitflugzeug zu gewöhnen – indem sie den Ultraleichtflieger neben der Voliere aufstellen und ihn langsam auf- und abrollen. In den nächsten Wochen dürfen die Waldrappe dann auch einmal ein Stückchen Probe fahren.
Von solch behüteten Verhältnissen war Salama weit entfernt. Das Waldrapp-Weibchen gehörte zu einer Gruppe von sieben Artgenossen, die 2002 überraschend in Syrien entdeckt worden waren, in der Nähe der antiken Oasenstadt Palmyra. Bei den Tieren handelte es sich um den wahrscheinlich letzten Rest einer einst großen Zahl von Waldrappen im Nahen Osten. Waldrappteam-Leiter Fritz war damals dabei, als die Tiere mit Sendern ausgestattet wurden; es gab Pläne, die Population wieder aufzupäppeln. „Das wurde durch die politische Situation unmöglich gemacht“, bedauert Fritz. Im Herbst 2012 zogen noch drei Waldrappe nach Süden, um im äthiopischen Hochland zu überwintern. Ein einziger – Salama – kehrte im folgenden Frühjahr nach Palmyra zurück. Danach verlor sich die Spur des letzten Zugvogels seiner Art, der nicht aus einem Auswilderungsprojekt stammt. Es lauern Steinadler und Jäger Ein solches Schicksal soll den Überlinger Artgenossen möglichst erspart bleiben. Tatsächlich ist Fritz optimistisch, dass die beiden Ziehmütter die 31 Waldrappe nahezu vollzählig über die Alpen bringen. Zwar ist auf Höhe der Dolomiten bei einem früheren Flug schon einmal ein Waldrapp dem Angriff eines Steinadlers zum Opfer gefallen, wie AnneGabriela Schmalstieg erzählt. Aber das ist eher die Ausnahme. Ein gefährlicherer Gegner ist der Mensch. Die Jagd auf Vögel ist in Italien immer noch verbreitet – wenn auch im Fall des Waldrapps verboten. Gerade erst wurde das Urteil gegen einen Hobbyjäger, der 2012 in der Provinz Livorno einen der streng geschützten Vögel abgeschossen hatte, vom Obersten Gerichtshof des Landes bestätigt – der Mann muss 2000 Euro Strafe zahlen und verliert seine Jagdlizenz.
Wenn die Ziehmütter in ihren Ultraleichtfliegern dabei sind, dann sind Wilderer aber normalerweise kein Problem. In vier bis fünf Tagesetappen binnen mehrerer Wochen geht es ins Winterquartier, jede Etappe ist 200 bis 300 Kilometer lang. Als Zwischenstopp für Tier und Fluggerät dienen Sportplätze oder andere Wiesen mit kurz gehaltenem Rasen.
In zwei, drei Jahren werden die Überlinger Waldrappe selber brüten wollen. Dann machen sie sich in umgekehrter Richtung auf, vom Mittelmeer an den Bodensee. Dort werden sie – so erwarten es Johannes Fritz und sein Team – zunächst dieselbe Wiese ansteuern, auf der sie heuer den Sommer verbringen. Dann steht ihnen noch ein letzter menschengeführter Umzug bevor: Ihre endgültige Heimat sollen die Felsen am Bodenseeufer bei Sipplingen werden – Felswände sind schließlich ihre bevorzugte Brutstätte. Dort wächst dann die nächste Waldrapp-Generation heran, ganz ohne menschliche Ziehmütter. Bis die Waldrappe Mitte oder Ende August zum ersten Mal nach Süden aufbrechen, können sie in ihrer Voliere bei Überlingen besucht werden. Diese befindet sich nahe dem Teilort Hödingen an einem Feldweg etwas unterhalb des Sportplatzes. Vom Sportplatz ist der Weg ausgeschildert. Besucher sind von 8.30 Uhr bis 19 Uhr willkommen, dürfen sich der Voliere aber nur auf etwa zwei Meter nähern, um die Vögel nicht zu erschrecken. Hunde sind nicht erlaubt.