Museumsreifer Feinripp
Radolfzell zeigt zum 750. Stadtjubiläum Schiesser-Wäsche von Privatpersonen
Gespannt betritt Silja Neumaier das Ausstellungshaus Villa Bosch in Radolfzell. Strampler, lange Unterhosen und Nachthemden hängen an den Wänden. Seit April ist die Villa das Zuhause der Doppelausstellung „Mein Schiesser – gestern und heute“. Zur Schau gestellt werden 100 Wäschestücke der Marke Schiesser, die nach einem Aufruf der Stadtverwaltung eingeschickt worden sind. Drei Kleidungsstücke davon gehören Silja Neumaier selbst: „Ein sehr schönes Gefühl. Man denkt an die Geschichten zurück und auch, wie es früher mal war“, sagt die 40-Jährige. 1000 „Zeller“für Schiesser Radolfzell, am westlichen Bodensee gelegen, ist die Heimat des Textilherstellers Schiesser. Zu Spitzenzeiten arbeiteten rund 1000 „Zeller“für den Unterwäsche-Giganten. Und obwohl die Produktion seit Anfang diesen Jahrtausends nach Tschechien und Griechenland ausgelagert wurde und aktuell nur noch knapp 360 Mitarbeiter in Radolfzell angestellt sind, lieben die Einheimischen den Erfinder von Feinripp und Tausendsassa immer noch. „Radolfzell ist mit Schiesser gewachsen“, sagt Neumaier. „Fast jeder hat damals dort gearbeitet und deshalb besteht noch heute eine Verbindung zum Unternehmen“– trotz der Insolvenz im Jahr 2009, bei der viele Menschen ihre Arbeit verloren haben. Negligés und Reizwäsche Zum 750. Stadtjubiläum Radolfzells wird dem Textilhersteller eine eigene Doppelausstellung gewidmet. Im Stadtmuseum in der Seetorstraße wird die Geschichte des 1875 von Jacques Schiesser gegründeten Unternehmens dargestellt. Die Ausstellungsmacher schrecken dabei nicht zurück, Negligés oder Reizwäsche im entsprechenden Umfeld zur Schau zu stellen: nämlich im Nachtclub und im Schlafzimmer. „Sehenswert“, bemerkt Astrid Deterling, Abteilungsleiterin des Kulturbüros. In der Villa Bosch in der Scheffelstraße gibt es im Obergeschoss die aktuelle Schiesser-Mode zu sehen, im Erdgeschoss die von früher. „Das älteste Stück ist hier von 1950“, erklärt Deterling.
Die Radolfzeller wurden dazu aufgerufen, auf dem Dachboden, in Schränken oder sonst wo nachzuschauen, ob sie noch Schiesser-Relikte aus längst vergangener Zeit finden. Deterling und ihr Team rechneten anfangs mit vielleicht rund 40 Einsendungen; am Ende waren es 216, wovon jedoch nur 100 in der Villa Bosch ausgestellt werden können. Auch jetzt noch würden Menschen anrufen und erzählen, was sie gefunden haben. „Davon lebt diese Ausstellung. Ohne Leihgeber könnten wir das nicht machen“, sagt sie.
Auch Silja Neumaier, deren Oma bei Schiesser gearbeitet hat, ist fasziniert von der regen Beteiligung der Bevölkerung. Als sie von der Aktion gehörte hatte, hat sie sofort ihren Dachboden durchgeforstet. Viele ihrer Schiesser-Kleider sind von zwei Kindern getragen und dann später noch in die DDR nach Staßfurt in Sachsen-Anhalt geschickt worden, um ihre jüngeren Cousinen zu versorgen. „Die Sachen haben halt auch so lange gehalten.“Ein paar Dinge entdeckte die 40-Jährige dann aber doch noch in einer Kiste: drei Kinderkleider und ein „Wechselröckchen“, wie sie es liebevoll nennt. „Das habe ich immer gerne getragen“, sagt sie. Doch nicht nur sie, auch ihre lebensgroße Puppe Evelyn schmückte das Röckchen lange Zeit. „Ich habe sie damit in meinem Kinderwagen rumgeschoben.“Später diente Evelyn in ihrem Wenderöckchen als Fasnetsdeko bei der Arbeit. „Sie saß als Hippie im Büro.“ Persönliche Geschichten Und so steckt hinter fast jedem der 100 ausgestellten Exemplare eine sehr persönliche, manchmal sogar intime Geschichte. Ein paar davon können in der Ausstellung nachgelesen werden. Da aber nicht jeder zugeben möchte, welche Reizwäsche einmal in seinem Besitz war, gibt es bis auf wenige Ausnahmen keine direkte Verbindung zwischen dem Schiesser-Stück und der dazugehörigen Story. „Das war uns wichtig. Und deswegen wurden uns dann doch auch Unterwäsche, Negligés und vieles mehr gebracht.“ Vor 750 Jahren wurde Radolfzell das Stadtrecht verliehen. Das Jubiläumsjahr wird unter dem Motto „Jeden Moment wert“gefeiert. Mehr Informationen dazu gibt es im Internet unter www.r750lfzell.de Die Doppelausstellung „Mein Schiesser – gestern und heute“ist Teil der Feierlichkeiten. Die Ausstellung ist noch bis zum 29. Oktober geöffnet. Ein Video und weitere Bilder von der Ausstellung gibt es im Internet unter www.schwäbische.de/ schiesser-ausstellung