Wenn der Bundestag zur Wahlkampfarena wird
Parteien nutzen letzte Parlamentssitzung vor der Wahl für einen offenen und ausgiebigen Schlagaustausch
BERLIN - Plötzlich wird es still, alle lauschen den Worten von Norbert Lammert. In seiner letzten Rede stimmt der scheidende Bundestagspräsident das Hohelied auf den Parlamentarismus an und beschwört den Konsens der Demokraten gegen Fanatiker und Fundamentalisten. Am Ende gibt es stehende Ovationen. Dank für Lammert auch von der Kanzlerin, der sei mit Sigmar Gabriel abgestimmt, sagt Merkel in Anspielung auf das TV-Duell mit ihrem Herausforderer Martin Schulz, bei dem der SPD-Kanzlerkandidat in der Türkeifrage von der bisherigen Linie des Außenministers abgewichen war.
Mit dem von Lammert beschworenen Konsens ist es dann aber in der anschließenden Debatte schnell vorbei. Knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl ist das Parlament zu seiner letzten Sitzung zusammengekommen. Das Plenum gerät zur Wahlkampfarena, unter der Reichstagskuppel wird heftig gestritten, drei Stunden lang tobt ein offener Schlagabtausch. Regierung gegen Opposition, Schwarz gegen Rot, Grüne gegen Linke, jeder gegen jeden. Letzte Gelegenheit für einen Rundumschlag.
Angela Merkel (CDU) zieht am Ende eine rundum positive Bilanz der vergangenen Jahre. Die Große Koalition habe „’ne Menge erreicht“. Doch dürfe man sich darauf nicht ausruhen. Deutschland stehe „an der Schwelle einer neuen Entwicklungsetappe“, verweist die Kanzlerin auf die Herausforderungen des digitalen Wandels. „Wir wollen nicht im Technikmuseum enden“, warnt Merkel. „Unverzeihliche Fehler“Der Automobilindustrie bescheinigt sie in der Dieselaffäre „unverzeihliche Fehler“, bekennt sich aber zum Verbrennungsmotor. Dem Land gehe es gut, die Regierung habe gute Arbeit geleistet, Millionen Menschen hätten heute mehr in der Tasche, lautet ihre Botschaft. Das habe sie vor allem der SPD zu verdanken, ruft SPDGeneralsekretär Hubertus Heil dazwischen. Da wird die Kanzlerin deutlich: „Gegen meinen Willen und den Willen der Union konnten Sie in diesem Parlament echt nichts durchsetzen“.
Vizekanzler Sigmar Gabriel kontert: Seine Partei habe ihr helfen müssen gegen CSU-Chef Horst Seehofer und Finanzminister Wolfgang Schäuble, „dass Sie einen Willen haben durften“, stichelt der Außenminister. „Wir haben gut auf Sie aufgepasst“, sagt er, und die Lacher der eigenen Parteifreunde sind ihm gewiss.
Doch der Vizekanzler kämpft mit angezogener Handbremse, dankt der Kanzlerin und dem Koalitionspartner für die gute Zusammenarbeit und lobt die gemeinsame Bilanz und Außenpolitik von Schwarz-Rot, so als wolle er sich bereits für die Zeit nach der Bundestagswahl empfehlen. Statt Merkel hart anzugreifen und seinem Kanzlerkandidaten Martin Schulz Schützenhilfe zu leisten, der mangels Amt und Mandat fehlt, nimmt sich Gabriel lieber die Unionspolitiker Jens Spahn (CDU) und Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) vor.
Spahn wolle Sozialleistungen kürzen, um Rüstungsausgaben zu erhöhen, kritisiert Gabriel. Zu Guttenberg habe in seiner Zeit als Minister die Bundeswehr ruiniert. „Ich bin zwar für Resozialisierung, aber der ist mit der Bundeswehr so sorgsam umgegangen wie mit seiner Doktorarbeit“, spottet Gabriel und erinnert an die Plagiatsaffäre des CSU-Politikers, die ihn schließlich das Ministeramt gekostet hatte.
Der Außenminister wirbt für eine „neue Abrüstungs- und Ostpolitik“und warnt vor einer „Rückkehr in die dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges“. Nicht Gabriel, sondern SPDFraktionschef Thomas Oppermann ist es, der im Stil eines Oppositionsführers mit Merkel abrechnet. „Viele Pläne sind an ihrem Widerstand gescheitert“, klagt er. Ob Mietpreisbremse oder Mindestlohn - die SPD habe in der Koalition viel erkämpfen müssen, „viel zu oft auch gegen Sie selbst“. Auch Linke und Grüne werfen der Kanzlerin und ihrer Regierung Scheitern und Versagen vor. Für Merkels„anl ass lose Euphorie“bestehe kein Grund. Mit ihrem„ Schön wetter wohlfühl wahlkampf“wolle sie die Menschen einlullen, kritisiert Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Grünen-Spitzenkandidat Cem Özdemir vermisst einen härteren Kurs gegen den türkischen Präsidenten Erdogan und dessen „langen Arm“nach Deutschland.
Am Ende ihrer Rede sorgt Merkel noch unfreiwillig für Gelächter bei SPD und Opposition. Ihre Zeit sei „so gut wie vorbei“, so die Kanzlerin doppeldeutig. „Ja, meine Redezeit hier“, stellt Merkel eilig klar, reagiert mit Kopfschütteln auf das Gejohle: „Mein Gott, wie weit sind wir jetzt eigentlich schon gekommen.“
Abschiedsstimmung nicht nur für Norbert Lammert am Ende einer denkwürdigen Sitzung. Zahlreiche Parlamentarier kehren nicht wieder in den Bundestag zurück. Es sei „ein Privileg“für ihn gewesen, seinem Land in dieser Aufgabe zu dienen, dankt Lammert zum Abschied und ruft die Wählerinnen und Wähler auf, vom „Königsrecht der Demokratie“Gebrauch zu machen und zur Wahl zu gehen.