Tanzendes Nussmonster
Unheimlich statt süß: Zürcher Ballett bringt den „Nussknacker“neu auf die Bühne
ZÜRICH - Es ist alles da und doch ist alles ganz anders: der große Blumenwalzer, die zarten Rohrflöten, der unwirkliche Klang der Celesta für den Tanz der Zuckerfee, die Zinnsoldaten oder die Tänze aus verschiedenen Nationen, die sich im bekannten Ballett „Nussknacker“ein Stelldichein geben. Schon der Titel „Nussknacker und Mausekönig“zeigt, dass es beim Ballett Zürich diesmal um mehr geht.
Christian Spuck, der begnadete Tanz-Erzähler und Ballettchef, der auch bereits den „Sandmann“und „Fräulein von Scuderi“nach Hoffmann auf die Bühne gebracht hat, hat sich eher von der ursprünglichen Geschichte von E.T.A. Hoffmann leiten lassen als von jener, die Alexandre Dumas aus Hoffmanns Text zu einem Libretto für Tschaikowsky umgeformt hatte. Tschaikowskys Ballettmusik wird aufgebrochen, neu zusammengestellt und bebildert, aus dem süßen Weihnachtsmärchen wird eine fantastische und durchaus unheimliche Geschichte. Und ebenso, wie Spuck diese Perspektive verändert, ist auch der klassische Tanz voll von witzigen Brechungen. Ein Spiel im Spiel Verschiedene Welten treffen aufeinander, durchdringen sich als Spiel im Spiel. Da ist der Pate Drosselmeier mit der Zauberwelt seiner Puppen und Maschinen, der der phantasiebegabten Marie und ihrem frechen Bruder Fritz seine Geschichten erzählt. Hier kommt Spucks Rückgriff auf die Geschichte der Prinzessin Pirlipat, ihrer Eltern und ihres prächtig gekleideten Hofstaats zum Tragen: Auf einem Fest ihr zu Ehren werben vier Prinzen um ihre Gunst, ein ungebetener Gast, eine Maus, wird vom König erschlagen. Weitere Mäuse, allen voran ihre Königin Frau Mauserinks, rächen sich und verwandeln die Prinzessin in ein Nussmonster, das nur Nüsse knacken will. Nur der süße Kern einer besonders harten Nuss mit Namen Krakatuk kann sie retten, dazu braucht es einen weiteren Prinzen, der die Nuss knacken kann. Der Zauber wird gelöst, die Prinzessin verliebt sich in den Prinzen, dieser aber wird von Frau Mauserinks in einen Nussknacker verwandelt, bevor sie stirbt. Dieser Nussknacker mit seiner prächtigen Uniform ist, natürlich, das Weihnachtsgeschenk Drosselmeiers an Marie, im Traum führt er sie ins Zuckerland, wo Blumen Walzer tanzen und das Tutu der Zuckerfee mit Törtchen bestückt ist. Wenn Marie erwacht, hat Drosselmeiers Neffe verblüffende Ähnlichkeit mit dem Nussknacker-Prinzen, das Kind ist zum verliebten jungen Mädchen geworden.
Mit den prächtig fantasievollen Kostümen von Buki Shiff, dem Bühnenbild von Rufus Didwiszus, der ein zweites Theater in den recht düsteren Bühnenraum stellt, dem fein und farbig aufspielenden Orchester unter der Leitung von Paul Connelly und natürlich mit seinen Tänzerinnen und Tänzern kann Christian Spuck aus dem Vollen schöpfen. Beherrschend als Typ mit Mantel, Zylinder, grauer Perücke und langen Fingern, die ständig in Bewegung scheinen, gibt der schlaksige Dominik Slavkovsky den Drosselmeier als Magier, Puppenspieler und durchaus auch als Verführer. Michelle Willems wandelt sich vom ängstlichen Kind zur blühenden jungen Frau, staunend, mitlebend und schließlich in einem rauschenden Tanz mit dem Prinzen und jungen Mann. William Moore erfüllt diese verschiedenen Rollen mal mit steifen Trippelschritten, mal mit raumgreifenden Sprüngen und poetischer Eleganz. Giulia Tonelli, äußerlich die Doppelgängerin von Marie, tanzt die Prinzessin Pirlipat als freches verwöhntes Kind. Yen Han und Matthew Knight lockern das mitunter dunkle Geschehen mit clownesker Akrobatik auf. Elena Vostrotina, Viktorina Kapitonova und Anna Khamzina haben Traumrollen als Tanten Schneeflocke (im schwarzen Glitzertutu), Zuckerfee und Blume. Und dass die (männlichen) Blumen mit seidigen bunten Hosen und Blütenbärten der Flower-Power-Bewegung zu entspringen scheinen, gibt Christian Spuck Gelegenheit für manchen Ausflug hinaus aus dem ganz klassischen Bewegungsrepertoire. Großer Jubel für eine Produktion, die das große Ensemble samt Junior Ballett einsetzt und die bis April noch einige Male zu sehen ist. Weitere Infos unter: www.opernhaus.ch