Unser WALD
Die Serie über den Sehnsuchtsort der Deutschen - ab heute
Was wäre Deutschland ohne seine Wälder – vom dunklen Schwarzwaldtann im Südwesten bis zum urigen Buchenwald über Rügens Kreidefelsen? Sehnsuchtsorte und Streitobjekte zugleich, denn der Wald ist auch Wirtschaftsfaktor, mindestens so wichtig wie die Autoindustrie. Und, nahezu ausschließlich, Natur aus Menschenhand. Ein sagenumwobenes, oft besungenes und in der Literatur allgegenwärtiges Paradies mit hohem Konfliktpotenzial.
Im Schwarzwald galt früher die Faustregel, dass eine reife Tanne die Hochzeit einer Bauerntochter finanziert. Der Wald als Geldanlage überstand Kriege und Währungskrisen. Er prägte den Begriff der Nachhaltigkeit, schon lange bevor dieser Mode wurde. Seit Generationen schon darf in Deutschland nur eingeschlagen werden, was auch nachwächst.
Der Wald ist zudem Paradebeispiel für die These, dass der Mensch dauerhaft nur das schützt, was ihm auch Nutzen bringt. Wald produziert den ältesten Energieträger der Menschheitsgeschichte und kompensiert zugleich enorme Mengen der Schadstoffe, die unser modernes Wirtschaften erzeugt. Global wie regional ist er aus unserem Ökosystem nicht wegzudenken.
Insgesamt gilt, dass es der Natur egal sein kann, ob die Wohltaten fürs Klima von Urwäldern erbracht werden. Oder aber, wie in Europa, überwiegend von Wirtschaftswäldern. Weltweit betrachtet ist es bedauerlicherweise so, dass der Raubbau vor allem dort voranschreitet, wo es noch Urwald gibt – vom Amazonas bis nach Sibirien. Während in fernen Ländern große Urwaldflächen dem Anbau von Konsumpflanzen weichen müssen (nicht nur fürs Palmöl, sondern auch für die Modefrucht Avocado), wird bei uns erbittert darüber gestritten, wie viel Urwald Deutschland braucht. Dieser muss selbst in den Nationalparks zum größten Teil erst geschaffen werden – von Menschenhand. Binnen 25 Jahren, haben sich Politik und Forst vorgenommen, soll dieser Wandel beispielsweise im Harz gelingen.
Der Waldbauer Heinrich Prinz zu Fürstenberg hält solche Sehnsucht nach sich selbst überlassenen Wäldern für reines Wunschdenken: „Diese Sichtweise ist zu banal, da es diesen natürlichen Wald fast gar nicht gibt in Deutschland. Dieser Wunsch-Naturwald könnte wirklich erst ein Waldökosystem werden, wenn der Mensch ihn mindestens 100 bis 200 Jahre in Ruhe lässt.“
Im Bayerischen Wald, dem ältesten deutschen Nationalpark, führte die reine Lehre vom Wildwuchs beinahe zum Volksaufstand, weil die dort zunächst nicht bekämpften Borkenkäfer über die Reservatsgrenzen in die Nutzwälder ausschwärmten. Nur noch Kernzonen bleiben heute sich selbst überlassen, seit die CSU-Staatsregierung die Notbremse zog und dem Käfer auch im Nationalpark zu Leibe rücken lässt.
Im noch jungen Schwarzwald-Nationalpark lassen die Urwaldplaner die Kirche eher im Dorf – und bekämpfen die Käfer zumindest in den Randzonen. Anhaltenden Ärger gibt es trotzdem auch dort. Im dritten Jahr nach der Reservatseröffnung ist der Widerstand noch höchst lebendig. Die kritische Bürgeraktion „Unser Nordschwarzwald“zählt akribisch jede Birke, die trotz Nationalpark-Mantra einer sich selbst regelnden Natur unter die Kettensäge gerät. Und beklagt, dass die Touristen trotz gegenteiliger Versprechungen eben nicht in Scharen kommen. Ob Schwarzwald oder Böhmerwald: Als Fremdenverkehrsmagnet ist so ein Nationalpark von bescheidener Wirkung. Die Kurzurlauber schätzen offenbar eher menschgemachte Attraktionen wie Baumwipfelpfade.
Dabei lehrt gerade das Beispiel Wald, wie komplex Ökosysteme sind. Und wie sehr diese den Menschen an die Grenzen vermeintlicher Allmacht bringen. Etwa durch das Schalenwild, das der Siedlungsdruck in die Waldregionen verdrängt hat. Dort sorgen Reh und Hirsch nun dafür, dass der ökologisch erwünschte Mischwald so recht nicht hochkommen will, weil Bambi & Co. bevorzugt Laubbäume schälen und verbeißen. Geduld könnte helfen: Der Klimawandel, glauben Wissenschaftler, wird die ungeliebten Fichten dezimieren und den Buchen eine neue Blütezeit bescheren. Bis dahin wird wohl weiter gestritten: Im bayerischen und württembergischen Oberland existieren längst früher für unmöglich gehaltene Allianzen von Jägern und Tierschützern, um die dem Waldumbau geschuldeten Massenabschüsse des Schalenwilds zu stoppen. „Wald vor Wild“lautet die Maxime der Münchner Staatsregierung.
Die Ansprüche an den Wald sind vielfältig und widersprüchlich zugleich. Von der Sehnsucht nach einem arten- und zahlreichen Bestand an Wildtieren bis zu den Gewinnerwartungen, die längst auch die Politik bewegen: Bayern voran haben die meisten Länder ihre Forste zu Profitzentren privatisiert. Das Kunststück, neben der Rendite die Erwartungen eines auf Naturschutz fixierten Wählerpublikums zu befriedigen, gelingt dabei nur unter Schwierigkeiten.
Der heimische Wald deckt dabei gerade mal die Hälfte des deutschen Holzverbrauchs. Holz hat Konjunktur, nicht nur als Bio-Baumaterial, sondern auch als Brennstoff. In nahezu jedem zweiten Haushalt lodert mittlerweile das Holzfeuer. Pellets und Hackschnitzel sind als nachwachsende Energieträger mit ausgeglichener Klimabilanz in Mode – und doch Gegenstand großstädtischer Feinstaubdebatten. „Energie aus Holz zu gewinnen, ist eine der großen Gefahren für unseren Wald“, warnt Stefan Adler, Forstexperte beim Naturschutzverband Nabu. Dort fordern sie, mindestens zehn Prozent der Staatsforste und fünf Prozent der Privatwälder der Natur zu überlassen.
Der geforderte Umbau rückt die Frage in den Vordergrund, welchen Wald sich der Durchschnittsbürger eigentlich wünscht. Schön aufgeräumt mit gepflegten Wegen, auf jeder zweiten Lichtung ein paar äsende Rehe? Oder lieber den echten Urwald, mit verrottenden Baumleichen auf großen Windbruchflächen? Kahlschläge kennt auf ihre Art schließlich auch die Natur, aber wer weiß schon, wie wichtig sie für neues Leben sind? Für seltene Pflanzen, die unter dichten Baumkronen nur schwer gedeihen, und für allerlei Getier – bis hin zu den selten gewordenen Rauhfußhühnern.
Wer die Lokalzeitungen der Nationalpark-Regionen studiert, ahnt schnell, wie zerrissen die Deutschen in dieser Frage sind. Es geht um die Wiederherstellung einer Landschaft, die sie so nicht kennen, vielleicht sogar fürchten – möglichst noch mit Bär und Wolf, die ja auch zur echten Natur gehören. Wie die neuen, aus fernen Ländern eingeschleppten Waldschädlinge. Das „Falsche Weiße Stängelbecherchen“etwa, das in Baden-Württemberg für großflächiges Sterben der Eschen sorgt – und damit ausgerechnet Laubbäume bedroht.
Womöglich hilft ein wenig Nachdenken. Zum Beispiel darüber, wie wichtig die Schutzfunktionen des Waldes sind: als Barriere gegen Lawinen und Muren. Oder als Wasserspeicher und Klimapuffer. Oder als Refugium für bedrohte Arten, etwa in den Auwäldern entlang der Flüsse, wo sie auch ein Hochwasserschutz sein könnten, wenn wir diese Flächen nicht zersiedeln. Nach den Horrorszenarien, die das „Waldsterben“vor wenigen Jahrzehnten ausgelöst hat, wäre es an der Zeit, die unverhoffte Denkpause zu nützen, die uns die Natur eingeräumt hat. Ein paar Urwälder mehr oder weniger sind dabei nicht das Hauptproblem – und auch nicht seine Lösung.
„Energie aus Holz zu gewinnen, ist eine der großen Gefahren für unseren Wald.“Stefan Adler, Forstexperte beim Naturschutzverband Nabu