Sülchenkirche wird wiedereröffnet
Rottenburger Sülchenkirche wird nach Sanierung heute wiedereröffnet – Grabfunde zeugen von 1500 Jahren christlicher Hoffnung
ROTTENBURG - (KNA) Nach fünfjähriger Sanierung wird die Rottenburger Sülchenkirche am Samstag wiedereröffnet. Archäologen hatten bei Grabungen christlich geprägte Funde entdeckt, die bis zum sechsten Jahrhundert zurückreichen und damit eine 1500-jährige christliche Bestattungskultur belegen. Die zutage geförderten Funde werden in einem eigenen Trakt präsentiert.
ROTTENBURG - In dem kleinen Becher könnten die Angehörigen ihrem verstorbenen Säugling Milch für die Reise ins Jenseits mitgegeben haben. Der Kamm diente einer Frau dazu, auch nach dem Tod die Haare in Ordnung zu halten. Und das Radkreuz sollte ein junges Mädchen vor 1500 Jahren als Christin ausweisen: In der Rottenburger Sülchenkirche, die am heutigen Samstag nach fünfjähriger, 5,8 Millionen Euro teurer Sanierung wiedereröffnet wird, haben Archäologen der Landesdenkmalpflege bei Grabungen christlich geprägte Funde entdeckt, die bis zum sechsten Jahrhundert zurückreichen und damit eine knapp 1500-jährige christliche Bestattungskultur im Glauben an die Auferstehung belegen. Grabbeigaben wie der Milchbecher und der Kamm weisen freilich darauf hin, dass heidnische Einflüsse zu jener Zeit noch lebendig waren. Das bronzene Radkreuz aus dem Mädchengrab aus der Zeit um 600 aber ist eines der ältesten Symbole für den christlichen Glauben im Südwesten Deutschlands: Damit verbreitete sich das Christentum früher als bisher angenommen zwischen Neckar, Alb und Bodensee. Radkreuzfund berührt Fürst Dem Rottenburger Bischof Gebhard Fürst ist an diesem Freitagmorgen anzumerken, dass ihn der Fund des Radkreuzes des Mädchens aus der alemannischen Oberschicht bei allem Trubel um die Wiedereröffnung der Sülchenkirche, der Friedhofskirche der Bischofsstadt am Neckar, persönlich berührt. Denn Fürst trägt ein solches Kreuz, das ganz in der Nähe gefunden wurde, als Replika in seinem Brustkreuz, dem sogenannten Pektorale. Er wünsche sich, sagt der Bischof, dass Sülchen in den nächsten Monaten und Jahren aus archäologischen, vor allem aber aus theologischen Gründen ein Besuchermagnet, ein „Hotspot unserer Glaubensgeschichte“, werde. Dieser Ort lade dazu ein, „Halt zu machen, in die Tiefe zu gehen und sich seines Glaubens zu vergewissern“.
Die im Jahr 1450 erbaute Sülchenkirche vor den Toren Rottenburgs ist bisher meist nur als Friedhofskirche wahrgenommen worden. Bis heute werden auf dem Friedhof, der das Gotteshaus umgibt, die Verstorbenen der Stadt bestattet. Bedeutung erlangte die Kirche, als dort nach der Gründung des Bistums Rottenburg in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Grablege für die verstorbenen Bischöfe geschaffen wurde. Neun Oberhirten haben dort seit 1886 ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Dass Sülchen aber jetzt zu einem landesweit einzigartigen Erinnerungsort von unschätzbarer Bedeutung geworden ist, verdanken die Archäologen der Landesdenkmalpflege einem Zufall: Im Jahr 2010 hatte Grundwasser die Bischofsgruft so stark beschädigt, dass eine umfassende Sanierung notwendig wurde. „Je nach Witterung stand das Wasser knöcheltief, sodass die Grabkammern von Kellerschwamm und Schimmel befallen waren“, sagte Dompfarrer Harald Kiebler vor sieben Jahren. Überraschung für Archäologen Als die Archäologen damit begannen, das Gelände zu untersuchen, stießen sie auf eine handfeste Überraschung. „Was wir gefunden haben, hat unsere Erwartungen bei weitem übertroffen“, erzählt Denkmalpflegerin Beate Schmid. Die Experten stießen auf die Fundamente einer gewaltigen Kirche mit drei großen Altarnischen aus dem 8. Jahrhundert. Solche Kirchenbauten seien in Süddeutschland völlig unbekannt, sagt Schmid. In der Schweiz ist eine vergleichbare Kirche als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt.
Daraus folgern die Wissenschaftler: Das heutige Rottenburg war in den Anfangsjahren des europäischen Christentums eine religiöse und politische Hochburg mit Strahlkraft weit über die Region hinaus. Es gilt zudem als erwiesen, dass der heilige Meinrad, Begründer der Benediktinerabtei Einsiedeln, als Spross eines Adelsgeschlechts in Sülchen geboren wurde. Auch dass wenig später herausragende Funde aus dem frühen Mittelalter wie auch aus der Barockzeit, darunter 80 Gräber und eine Grube für den Glockenguss, geborgen würden, ahnte damals niemand. Dass Besucher heute bis in die Frühzeit von Sülchen zurückreichende Fundamentreste betrachten können, war nicht vorstellbar.
Dem Betrachter erzählen die Fundstücke ihre ganz eigenen Geschichten. Zum Beispiel die des Priesters aus dem 17. Jahrhundert, der unter starkem Kopfweh gelitten haben muss. Wie damals üblich, wurde der etwa 50 Jahre alte Geistliche operiert, indem man ihm ein Loch in den Schädel bohrte. Der Priester scheint diese OP nicht überlebt zu haben, denn das Loch wuchs nicht zu. Er starb an Blutverlust oder einer Blutvergiftung.
In einer anderen Vitrine sind die Knochen eines Mannes zu sehen, der zu Lebzeiten – zwischen dem 6. und dem 11. Jahrhundert – stark gehumpelt haben muss. Mit modernen Untersuchungsmethoden haben Forscher herausgefunden, dass er an einer Knochenhautentzündung litt. Außerdem hatte er Karies und Zahnstein.
Als „Mädchen aus gutem Haus“bezeichnen die Forscher die Vierjährige, die nach ihrem Tod mit vielen Grabbeigaben bestattet wurde. 100 Perlen und Schühchen, die in der Zeit zwischen 610 und 660 in Mode waren, deuten auf Wohlstand im Haus der Eltern hin. Und dass das Kind auf dem Grab eines Mannes bestattet wurde, bestätigt die Annahme, dass das Mädchen einer ranghohen Familie angehörte.
Die Fundstücke sind behutsam ausgegraben worden, nachdem bei Bauarbeiten im 19. Jahrhundert viele archäologische Sünden begangen worden seien, hieß es am Freitag. Museumsleiterin Melanie Prange betonte, dass der Zutritt zu den Vitrinen wegen der Kostbarkeit der Artefakte nur mit Führungen möglich ist. Der Besuch lohnt sich, denn die Fundstücke werden zusammen mit animierten Zeichnungen sowie Mauerund Steinresten der Sülchener Vorgängerbauten in einem auch für Laien leicht zu verstehenden Zusammenhang präsentiert. Auch die Ausdehnung des frühmittelalterlichen Gräberfelds, über dem die Kirche im 7. Jahrhundert entstand, wird auf diese Weise nachvollziehbar. Balance soll hergestellt werden Bischof Fürst wünscht sich eine Balance zwischen der Nutzung der Sülchenkirche als Friedhofskirche und Erinnerungsort für christliche Hoffnung, der Präsentation der archäologischen Funde und der Grablege der bisher neun verstorbenen Rottenburger Bischöfe. Er spricht von einem „herausragenden und beeindruckenden Denkmal der Kontinuität von Christentum, Kirche und Feier ihrer Liturgie an diesem Ort“. Gut möglich, dass in der Umgebung der Sülchenkirche die Zeit der Überraschungen noch nicht vorbei ist: Der Chef der baden-württembergischen Denkmalpflege, Claus Wolf, kündigte am Freitag einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an. Mit diesen Mitteln solle die Geschichte der Sülchenkirche und ihrer Umgebung in der frühmittelalterlichen Phase weiter untersucht werden.