Traumatisiert nach Loveparade
Nadine Schmid aus Donauwörth überlebte nur knapp die Loveparade-Tragödie – Noch immer leidet sie unter Angst und Panik
RAVENSBURG (sz) - Nadine Schmid aus Donauwörth ist bei der Loveparade 2010, bei der 21 Menschen starben, nur knapp mit dem Leben davongekommen. Damals lange in der Menschenmenge eingeschlossen, leidet sie noch heute unter Angstzuständen und Schlafstörungen. Aktuell wird das Unglück vor dem Landgericht Duisburg verhandelt, dabei tritt die 33-Jährige als Nebenklägerin und Zeugin auf.
„Da oben feiern sie und da unten sterben sie.“
Die Schreie, die Hilferufe, die Panik und die Todesangst: Sie sind wieder da, wenn Nadine Schmid ins Erzählen kommt. Die Erinnerungen an die Loveparade in Duisburg vor mehr als sieben Jahren lassen sie nicht los und wühlen sie immer noch auf, lassen sie beim Sprechen ins Stocken geraten. Und doch will die hübsche junge Frau mit den langen schwarzen Haaren ihre Geschichte erzählen, will berichten von dem Tag, der ihr Leben von einer Sekunde auf die andere auf den Kopf gestellt hat, will schildern, was sie Schreckliches erlebt, aber zum Glück überlebt hat. 21 andere Besucher der Veranstaltung hatten dieses Glück nicht. An sie will sie erinnern. Und die gebürtige Nördlingerin (Landkreis Donau-Ries), die jetzt in der Nähe von Donauwörth lebt, will Gerechtigkeit. In Düsseldorf, dort findet der Prozess statt, ist sie deshalb zurzeit als Nebenklägerin an der juristischen Aufarbeitung der Loveparade beteiligt.
Wir schreiben den 24. Juli 2010, ein Samstag. Mit ihrer Freundin freut sich Nadine Schmid auf die Loveparade. Sie stammt aus dem Ries, lebt damals in Köln und war schon drei bis vier Mal auf der Loveparade in Berlin, auch in Dortmund war sie dabei. Deshalb fährt sie nach Duisburg, wo diesmal die Loveparade steigen soll. Es ist ein sonniger, warmer Sommertag. Es ist eng und heiß Die 33-jährige gelernte Kommunikationsfachfrau im Steuerbüro und Wirtschaftsfachwirtin freut sich schon darauf, weil sie denkt, es wird so schön wie in Dortmund. Der Zug ist zwar extrem voll, aber die meisten Fahrgäste sind guter Stimmung, weil sie alle zur Loveparade wollen. In der Regionalbahn geht es eng her und es ist heiß – nicht wegen der Stimmung oder der Musik: Es gibt keine Klimaanlage. „Das war schon ein komisches Gefühl“, erzählt Nadine Schmid, „ich habe gedacht, hoffentlich sind wir bald da. Und ich war froh, als wir aussteigen konnten.“
Das Festgelände liegt damals gegenüber dem Duisburger Bahnhof. Dennoch führen gelbe und orangefarbene Schilder die Besucher am Gelände entlang in engen Gassen zu einem Eingang. Nadine Schmid erinnert sich: „Ich habe gedacht, oh Duisburg ist aber eng. Das kam mir schon komisch vor.“
Als die Menge an einer Absperrung von der Security aufgehalten wird und Taschenkontrollen angesagt sind, beschwert sie sich bei einem der Männer: „Bei diesen Tausenden von Leuten können Sie doch keine Kontrollen machen!“Sie erhält die lapidare Antwort: „Doch, das müssen wir!“Missstimmung kommt auf und Nadine Schmid erinnert sich: „Mir war nicht wohl dabei!“
Als plötzlich das Kommando „3,2,1“zu hören ist, stürmt die Menge die Absperrung. „Ich bin mitgerannt“, erzählt Nadine Schmid, „sonst wären wir überrannt worden.“Die Security muss macht- und tatenlos zusehen. Die Besucher aber haben mehr Bewegungsfreiheit, die Atmosphäre ist wieder gelöst.
Durch einen Tunnel geht es auf eine Rampe, alle hören schon die Musik vom Festgelände und freuen sich darauf, dass demnächst ihr Lieblings-DJ auflegen wird.
Doch auf der Rampe stoppt ein Bauzaun die Menge. Er ist mit einer dicken Eisenkette gesichert. Gegen sie hilft keine Kraftanstrengung. Weder Nadine Schmid, eine zierliche, 1,65 Meter große Frau, noch ein kräftiger Mann können sie öffnen, als es immer enger wird. Ein Durchkommen ist unmöglich und von der Security oder der Polizei ist weit und breit nichts zu sehen. So hört niemand, dass die jungen Leute rufen „Hallo, wir wollen hier durch!“Und niemand sieht offensichtlich, dass von hinten immer mehr Menschen nachdrängen. Niemand hört die Rufe „Hallo, können Sie endlich öffnen, wir wollen zur Party!“Aber die immer mehr drängelnde Masse hört die Musik und sieht jubelnde Menschen auf dem Festgelände. Hauptsache raus hier Nadine Schmid bekommt so langsam Panik, spürt plötzlich keinen Boden mehr unter ihren Füßen. Sie merkt, wie an ihrem Rock gezogen wird, an ihrem T-Shirt. „Egal“, sagt sie sich, „Hauptsache, ich komme hier lebendig raus!“
Sie sieht eine Frau, mit der sie zuvor öfter Blickkontakt gehabt hatte, nach unten sinken und in der Masse verschwinden. Vermutlich ist die Frau zusammengetrampelt worden und ums Leben gekommen.
Nadine Schmid hatte ihre Freundin an der Hand genommen, aber die beiden jungen Frauen werden auseinandergerissen. Sie verlieren sich aus den Augen. Nadine Schmid: „Da ging es nur noch im Einzelkampf ums Überleben.“
Sie spürt ein Knie und Beine in ihrem Bauch, hat einen Ellenbogen in ihrem Hals, fürchtet, dass sie keine Luft mehr bekommt. Dann hat sie noch mehr fremde Körperteile an Brust, Bauch, Ellenbogen oder Knie. Sie schreit und hört viele Schreie, kippt mal nach rechts und mal nach links. Für kurze Zeit wird sie mit der Backe gegen den Bauzaun gedrückt.
Einmal hat sie sich umgedreht und zurück zum Tunnel geschaut, aus dem sie gekommen sind. Sie sieht Tausende von Köpfen und denkt „Oh Gott, sind das viele Menschen!“
Sie weiß aber auch: Jetzt ist es wirklich ernst. Es geht ums Überleben. Sie ruft in Todesangst um Hilfe. Währenddessen hört die junge Frau Musik, die Bässe wummern, Menschen jubeln und tanzen – und ahnen offensichtlich nicht, welch schreckliche Tragödie sich gerade in ihrer unmittelbaren Nähe abspielt.
Heute ist klar: Damals drängten aus zwei Tunneln Zehntausende zum Festivalgelände. Andere kamen ihnen entgegen, wollten das TechnoFest schon wieder verlassen. Immer dichter gedrängt standen die Menschen auf der Zugangsrampe, was zu einem fatalem Stau im Nadelöhr führte. Gut eineinhalb Stunden sind die Frauen und Männer eingezwängt. Irgendwann drängen alle in Richtung einer Treppe, aber es geht nicht voran. Nadine Schmid sieht einen Mann, der auf der Treppe stehen bleibt und ein anderer ruft „Frauen und Kinder zuerst!“Nadine Schmid macht sich bemerkbar. Der Mann zieht sie aus der Masse nach oben. Sie ist gerettet.
Obwohl sie irre Schmerzen hat, besorgt sie sich Wasser in Plastikflaschen und schüttet es zur Erfrischung in die Menschenmenge, die auf der Rampe noch um ihr Leben kämpft. Die junge Frau will einfach nur helfen.
Nadine Schmid hat Schmerzen ohne Ende, aber das ist ihr egal. Sie will nicht zu den Sanitätern, sie will helfen. Ihr rotes T-Shirt ist lädiert, ihre Stiefel sind zerfetzt, sie kann in ihnen gerade noch weiterlaufen. Sie ist von der Schminke im Gesicht komplett verschmiert. Leute kommen ihr entgegen und rufen: „Hey, lach doch mal!“Nadine Schmid schaut aber auf die Rampe hinunter. Nadine Schmids Gedanken während der Loveparade
Später denkt sie: „Da oben feiern sie und da unten sterben sie.“Dass es wirklich Tote gegeben hat, ahnt sie, als Sanitäter am Boden liegende Menschen mit Planen zudecken. „Verdammt, ich glaube, die sind wirklich gestorben“, schießt es ihr durch den Kopf. Erst heißt es, es gehe um zehn Tote, bekommt sie aus Gesprächen zwischen den Sanitätern und den Politessen mit, später ist von 15 Toten die Rede, dann von 18.
Nadine Schmid setzt sich irgendwann hin und weint nur noch. Sie ruft ihre Schwester an. Aber die Verbindung ist schlecht, es ist laut und Martinshörner sind zu hören. Zum Glück taucht die verloren gegangene Freundin wieder auf. Die beiden Frauen nehmen sich in die Arme und weinen.
Sie hätten durch den Tunnel zurück müssen, aber sie trauen sich nicht. Lieber bleiben sie auf dem Festgelände, damit sie es als Letzte verlassen können, und warten auf die Abschlusskundgebung, denn die Party geht trotz der schrecklichen Geschehnisse auf der Rampe weiter. Immer noch wird getanzt, die Loveparade wird nicht abgebrochen.
Erst als fast alle weg sind, machen sich die beiden Frauen am späten Abend auf den Weg. Sie müssen wieder durch einen Tunnel und haben Angst. Sie schauen immer wieder nach links und rechts, vergewissern sich, dass sie nicht mehr eingepfercht sind. Ein Teilnehmer der Loveparade packt sie in sein Auto und nimmt sie mit nach Köln. Die Schmerzen sind zwar nach ein, zwei Wochen weg, aber die Frauen trauen sich zunächst nicht mehr aus der Wohnung.
Nadine Schmid will nun heim nach Bayern. Sie zieht in die Nähe von Donauwörth und findet neue Arbeit. Fünf Jahre lang geht sie ihr nach. Sie versucht, einfach ihr Leben weiterzuleben und die schlimmen Erlebnisse zu verdrängen.
Dann schlägt die posttraumatische Belastungsstörung zu: Panikattacken plagen die junge Frau, sie hat Angstzustände, kann keine Musik mehr hören, hat Schlafprobleme und Alpträume. Sie träumt von den Toten der Loveparade. Seit zwei Jahren ist Nadine Schmid nun von ihren Ärzten krankgeschrieben. Sie hat Platzangst, geht immer noch auf keine Party, steigt in keine übervolle Straßenbahn und meidet Menschenansammlungen.
Sie hat aber auch eine Traumatherapie absolviert. Die hat ihr sehr geholfen. „Heute geht es mir besser“, sagt Nadine Schmid. Jetzt will sie den Gerichtsprozess in Düsseldorf hinter sich bringen. Sie ist dort zusammen mit ihrem Rechtsanwalt Manuel Reiger aus Neresheim (Ostalbkreis) nicht nur Nebenklägerin, sondern auch Zeugin. In dieser Eigenschaft wird sie der Richter auch befragen. Sie will sich stellen Dann wird sie noch einmal Fragen beantworten müssen, schreckliche Szenen noch einmal durchleben, von Emotionen stockend erzählen. Mehrere Betroffene wollen das nicht und haben ihre Nebenklagen zurückgezogen. Überwiegend sind es Menschen wie Nadine Schmid, die das Unglück verletzt überlebt haben, aber wohl die psychische Belastung durch den Prozess fürchten.
Nadine Schmid will sich ihr stellen. Sie will aussagen und hofft, dann mit dem Geschehenen abschließen zu können. Und sie will wieder arbeiten gehen.
Das Gericht aber muss sich sputen: Am Dienstag, 30. Januar, werden die nächsten Zeugen gehört. Bis zum 27. Juli 2020 muss es ein Urteil in erster Instanz geben. Sonst verjähren die Straftaten, die Angeklagten gehen straffrei aus. An diesem Datum war 2010 das 21. Opfer gestorben.