Die braune Maske
Eine Fasnetsmaske aus dem Jahr 1938/39 karikiert Adolf Hitler – Ein mutiger Narr, der sie trug, konnte einst den Nazis entwischen
WEINGARTEN - Hunderte Narren ziehen in bunten Häsern gut gelaunt durch die Stadt. Tausende Schaulustige säumen die Straßen und genießen den Weingartener Narrensprung. Die gesamte Stadt befindet sich wieder einmal im Ausnahmezustand. Doch etwas ist in diesem Jahr anders. Eine Figur sticht aus den Maskeraden heraus. Ein klein gewachsener Narr in rot-weißem Plätzlerhäs ruft den Würdenträgern auf dem Rathausbalkon entgegen: „Der Krieg ist verloren, bevor ihr ihn überhaupt angefangen habt. Sieg Heil.“Über das Gesicht hat er eine Holzmaske gezogen, die aussieht wie Adolf Hitler. Es ist das Jahr 1939 – der letzte Narrensprung vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
79 Jahre später, am heutigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, liegt die braune Maske im Fasnetsmuseum der Plätzlerzunft in Weingarten in einer abgeschlossenen Vitrine. Zwar ist die Farbe an einigen Stellen schon abgesprungen. Dennoch ist die Ähnlichkeit verblüffend. Neben dem offensichtlichen Scheitel und dem typischen Hitlerbärtchen weist die Maske auch eine große Nase und eine kleine Einkerbung am Kinn auf. Auch ist das Kinn relativ spitz, die Wangenknochen liegen hoch – ein Abbild von Adolf Hitler. Daher verwundert es wenig, dass die Maske umgangssprachlich auch „Hitler-Maske“oder „Adolf“genannt wurde.
Unpolitischer Pate
Offiziell heißt die Maske allerdings „dr’ alte Betz“. Ein sehr bekannter Weingartener aus der Familie Betz – obwohl eher unpolitisch – soll Pate für die Maske gestanden haben, weil er ähnliche Gesichtszüge hatte. Doch dürfte das nur ein Vorwand zum Schutz vor Repressalien gewesen sein. Denn Alfons Arnold, der die Maske wohl 1938 angefertigt hatte, verstand sein Handwerk überaus gut. Seinerzeit war er der einzige Schnitzer, der Masken für die Plätzler herstellte. Auch geht auf ihn der Grundtyp der Plätzler-Maske zurück. Daher darf davon ausgegangen werden, dass nicht Betz, sondern Hitler abgebildet werden sollte. „Offiziell hatte sie keinen politischen Bezug, sondern nur eine optische Ähnlichkeit“, sagt Plätzlerarchivar Andreas Reutter. „Den Leuten war die Bedeutung aber klar. Sie wurde als Hitler-Maske wahrgenommen.“
Aus Zeitzeugenberichten geht zudem hervor, dass die Maske als Karikierung verstanden werden sollte, um sich über den Reichskanzler lustig zu machen. Einen sicheren Beweis für Arnolds Absichten gibt es zwar nicht, doch gibt seine persönliche Vita interessante Fingerzeige. Denn Alfons Arnold hatte zeitweise durchaus einen starken Bezug zu den Nationalsozialisten. In anfänglicher Bejahung trat er in jungen Jahren – Arnold kam 1911 als jüngstes von elf Kindern auf die Welt – in die SS ein. Wann genau das war, ist nicht nachzuvollziehen. Doch kam Arnold durch die SS ins Konzentrationslager Dachau, wo er zeitweise als Wachmann arbeitete. „Er hat die furchtbare Not dort gesehen, ist nach Weingarten aufs Rathaus gegangen und hat alles abgelegt“, sagt Arnolds Neffe Conrad David Arnold, der heute noch in Weingarten als Künstler bekannt ist. Für ihn war sein Onkel kein Nazi: „Er war sehr tief religiös, was auch seine vielen religiösen Arbeiten belegen“, sagt Conrad David Arnold. „Er konnte kein Nazi sein. Er kam mit diesem Regime nicht zurecht.“
Das mag Reutter nicht bewerten, allerdings bestätigt auch er, dass Alfons Arnold aufgrund der Erfahrungen in Dachau aus der SS austrat. Dabei ist aber unklar, wann Arnold sich von der SS distanzierte. Ebenfalls strittig sind die Folgen dieses Sinneswandels. Denn Arnold wurde wohl 1940 wieder eingezogen und an die Ostfront versetzt. Dort fiel er am 13. Dezember 1941.
Unklare Zusammenhänge
Inwieweit die Versetzung an den damals gefährlichsten Kriegsschauplatz und der SS-Austritt in Zusammenhang stehen, kann Reutter, der den gesamten Arnold’schen Familienstammbaum erforscht hat, nicht bewerten. Dass die Hitler-Maske für den Russlandeinsatz und damit auch für den Tod Arnolds verantwortlich ist, bezweifelt der Archivar: „Ich würde nicht sagen, dass das etwas mit der Maske zu tun hatte.“
Klar ist dagegen, dass die Maske ihren Schöpfer überdauerte. Das außergewöhnliche Exemplar verschwand nach dem Narrensprung 1939 zwar erst einmal von der Bildfläche. Doch in den 1950er-Jahren tauchte sie wieder auf – und wurde sogar bei zahlreichen Fasnetsumzügen in den 1950er- und 1960er-Jahren getragen. „Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass die Maske über zehn bis 20 Jahre wieder mitgelaufen ist“, sagt Reutter. Weingartens Fasnetsfachmann Jürgen Hohl weiß sogar, wer dafür verantwortlich war. Denn ebenjene Person hatte sich die Maske von den Weingartener Besitzern ausgeliehen. Allerdings hatte die Ausleihe ein jähes, unschönes Ende. Denn der Ausleiher ließ heimlich und ohne um Erlaubnis gefragt zu haben, eine Kopie der Maske anfertigen. „Das wollen wir ausdrücklich nicht haben. Die Maske hatte in dem einen Jahr ihren Sinn. Danach aber nicht mehr“, sagt auch Reutter. Da das Duplikat für jede Menge Ärger sorgte, kehrte das Original in den Besitz der Weingartener Familie zurück.
In den folgenden Jahrzehnten geriet die Hitler-Maske wieder in Vergessenheit, bis Jürgen Hohl vor rund 20 Jahren und mit Unterstützung der „Schwäbischen Zeitung“nach ihr suchte. Die Besitzerfamilie nahm daraufhin Kontakt zu Hohl auf und stellt „dr’ alte Betz“seitdem als Dauerleihgabe dem Zunftmuseum der Plätzler zur Verfügung.
NS-Einfluss auf Fasnet
Und so liegt die Originalmaske seit vielen Jahren gut verwahrt in einer Vitrine und erinnert an eine Zeit, in der eine freie und fröhliche Fasnet keine Selbstverständlichkeit war. Denn wie aus einem Schreiben der Ravensburger Kreisleitung an das Bürgermeisteramt Weingarten aus dem Januar 1935 hervorgeht, hatte die NSDAP gegen Faschingsumzüge in selbigem Jahr nichts einzuwenden. Allerdings solle „das Althergebrachte in Erinnerung“gebracht werden. Schließlich sei in den vergangenen Jahren das Urwüchsige des Faschingstreibens verschwunden und habe einem jüdisch-liberalistischen Zeitgeist Platz gemacht, heißt es in dem Schreiben. „Unter allen Umständen soll vermieden werden, dass Kitsch und Hergebrachtes aus der Inflationszeit hie und da wieder auftaucht“, lautete die Anweisung.
Angesichts dieser klaren Vorgaben im Jahr 1935 kann die Aktion auf dem Narrensprung 1939 und damit vier Jahre später als umso mutiger eingeschätzt werden. Das unterstreicht auch Jürgen Hohl. Im süddeutschen Raum habe es nur ganz wenig Aufbegehren bei Fasnetsveranstaltungen gegeben. „Die Fasnacht war wie der Karneval in 'Kraft durch Freude’ eingespannt. Die Fasnet wurde ganz langsam völkisch gemacht“, sagt er. Auch in Weingarten sei die Fasnet gehörig instrumentalisiert worden. Das belegen auch die Umzüge vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Soldaten und Offiziere der Welfenkaserne verkleideten sich 1936 als bewaffnete Äthiopier, um den Überfall des ebenfalls faschistischen Italiens auf Äthiopien – auch bekannt als Abessinienkrieg – abzubilden. Zwei Jahre später sollten Afrikaner in primitiven Hütten das Klischee der Kolonien darstellen.
Nichts Vergleichbares
In dieser Zeit den Reichskanzler Adolf Hitler zu karikieren, muss also eine gehörige Portion Mut erfordert haben. „Das war schon einmalig und wurde von der SS natürlich unter Verschluss gehalten“, sagt Hohl. Ihm und Reutter sind auch keine anderen vergleichbaren Masken im süddeutschen Raum bekannt. Da verwundert es wenig, dass sich die Besucher im Plätzlermuseum immer besonders für „dr’ alte Betz“interessieren.
Und das, obwohl eines der wichtigsten Rätsel bis heute nicht gelöst ist. Zwar beschreiben Zeitzeugen ihn als kleineren und schon etwas älteren Plätzler, aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, wer am 19. Februar 1939 den Mut hatte, die Hitler-Maske aufzuziehen. Direkt nach seinem Auftritt vor dem Rathausbalkon verschwand er in der Menge. „Das habe ich bis heute nicht herausgefunden. Es gibt keinen Namen dazu“, sagt Reutter. Jürgen Hohl meint aber, dass es ein Weingartener Bürger gewesen sein muss, da er sich wohl in den schmalen Gässchen der Stadt auskannte und so den SS-Leuten entkommen konnte. Schließlich hatte NSDAP-Kreisleiter Carl Rudorf den Befehl gegeben, den Hitler-Plätzler festzunehmen. Umso größer soll der Ärger auf dem Rathausbalkon gewesen sein, als der Narr den Nazis entwischte.