Konstruierte Realität
London feiert Andreas Gursky mit einer großen Ausstellung in der Hayward-Gallery
LONDON - „Chronist des globalen Kapitalismus“nennt man ihn. Als „einen Aspekt meiner Arbeit“will Andreas Gursky die Bezeichnung gelten lassen, immerhin ist er ein begeisterter Leser von Zeitungen und Magazinen, war für seine weltberühmten Kunstwerke rund um die Welt unterwegs. Der Fotokünstler, 63, passt also in die Stadt mit dem größten internationalen Finanzzentrum der Welt, wo dem globalen Kapitalismus bis heute gehuldigt wird, allen Krisensymptomen zum Trotz. Eine Retrospektive von Gurskys Werk aus mehr als drei Jahrzehnten bildet die erste Ausstellung in der nach zweijähriger Renovierung neueröffneten Hayward-Gallery auf dem Südufer der Themse.
Der 50 Jahre alte Klotz im Baustil des Beton-Brutalismus ist nicht jedermanns Sache, für Gursky aber genau richtig. „Ich mag diese Architektur sehr“, sagt der Künstler und schwärmt von freistehenden Treppenhäusern und Betonwänden. Davon gibt es reichlich in dem Haus, dessen Facelifting vor allem dem oberen Stockwerk zugute gekommen ist. Dort lassen die 66 Dachpyramiden nun endlich Tageslicht in die Ausstellungsräume, die zuvor durch eine künstliche Decke deutlich niedriger waren und dementsprechend beklemmend wirkten. Sein Haus sehe nun „besser aus als am Tag der Ersteröffnung“, sagt Direktor Ralph Rugoff. Der gebürtige New Yorker hat in Kollaboration mit dem Künstler die Ausstellung kuratiert. Selbst Kennern von Gurskys Werk verspricht Rugoff großspurig „Dinge, die sie noch nicht kannten“. Gursky selbst erklärt sich „zu 100 Prozent glücklich“mit der Retrospektive: Die umgebaute Galerie entspreche genau seinen Vorstellungen von offenen Räumen, von Durchblicken und freien Wänden. Freundliche Besprechungen Der große deutsche Fotokünstler ist auf der Insel bisher merkwürdig unbekannt, mal abgesehen von seinem Ruf als jemand, der mit seinen großformatigen Werken Millionenpreise erzielt. Keine der insgesamt sehr freundlichen Besprechungen in den britischen Medien vergisst darauf hinzuweisen, dass Gurskys „Rhein II“2011 für 4,3 Millionen Dollar den Besitzer wechselte. Dabei ist an dem Kunstwerk viel weniger der exorbitante Preis interessant als vielmehr die digitale Bearbeitung. Denn diesen Fluss gibt es gar nicht: Einen Spaziergänger samt Hund, ja sogar ein ganzes Heizkraftwerk hat Gursky aus dem Foto retuschiert. Mit den silbern-stahlgrauen Flusswellen, dem hellgrauen Himmel und grünen Böschungen ähnelt es jetzt mehr einem abstrakten Gemälde als einer echten Landschaft.
Aber was ist das schon, eine echte Landschaft? „Realität kann man nur zeigen, indem man sie konstruiert“, behauptet Gursky und vergleicht sich gern mit einem Autor. Dessen Beschreibung einer Zugreise gebe auch nur eine Erinnerung wieder.
Im Lauf der Jahre, soviel wird in der Hayward-Gallery deutlich, hat der Sohn und Enkel von Werbefotografen diesen Grundsatz immer stärker weiterentwickelt. „Rückblick“(2015) zeigt Kanzlerin Angela Merkel von hinten in einer Reihe mit ihren drei damals noch lebenden Vorgängern, Helmut Schmidt sofort erkennbar durch eine Zigarettenrauchwolke über dem weißhaarigen Kopf. Die fiktive Szene zeigt die vier echten Politiker bei der Betrachtung des echten Gemäldes „Vir Heroicus Sublimis“(1950/51) von Barnett Newman, einem abstrakten Expressionisten. Brillante Studien Der Einfluss dieser Kunstrichtung auf Gurskys Werk lässt sich an einer Reihe von Exponaten ablesen, nicht zuletzt einer brillanten Studie holländischer Tulpenfelder („Ohne Titel XVIII“), die der Künstler 2015 aus dem Hubschrauber fotografierte. Mehr als 20 Jahre zuvor hatte Gursky den grauen Teppich der Düsseldorfer Kunsthalle zur Kunst gekürt („Ohne Titel I“), indem er einen Ausschnitt aus der Nähe aufnahm.
Ob es denn in seinen Kunstwerken Humor gebe, wird Gursky von einem BBC-Interviewer gefragt. Der Künstler bleibt seinem Vorgehen treu, an diesem Vormittag auch den dämlichsten Fragestellern liebenswürdig Auskunft zu geben über sich und sein Werk. Also erhält auch der Fernsehmann eine Antwort: Naja, Humor liege doch wohl im Auge des Betrachters, sagt Gursky sinngemäss. Wer nicht lacht, ist selber schuld. Bis 22. April, Öffnungszeiten: täglich 11 – 19 Uhr, ausgenommen dienstag. Weitere Infos unter: www.southbankcentre.co.uk